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Steuer & Recht
Die Befugnis der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA), in dringlichen Fällen auf den Finanzmärkten der Mitgliedstaaten einzugreifen, um Leerverkäufe zu regeln oder zu verbieten, ist mit dem Unionsrecht vereinbar.
Die Ausübung dieser Befugnis, die an verschiedene Kriterien und Bedingungen geknüpft ist, die den Handlungsspielraum dieser Behörde einschränken, lässt die im AEU-Vertrag vorgesehene Regelung der Übertragung von Befugnissen unberührt.
Die Europäische Union erließ im Jahr 2012 im Zusammenhang mit der Finanzkrise eine Verordnung zur Harmonisierung von Leerverkäufen. Leerverkäufe sind eine Praxis, bei der ein Verkäufer Wertpapiere und sonstige Vermögenswerte, die sich zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht in seinem Eigentum befinden, in der Absicht verkauft, von einem Kursrückgang der Vermögenswerte zu profitieren. Die Verordnung soll insbesondere verhindern, dass die Kurse von Finanzinstrumenten bei einer Störung der Finanzmärkte durch die Wirkung von Leerverkäufen außer Kontrolle geraten und abstürzen.
Die Verordnung wurde gestützt auf Art. 114 AEUV erlassen, der den Erlass von Harmonisierungsmaßnahmen erlaubt, die für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind. Art. 28 der Verordnung verleiht der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) bestimmte Eingriffsbefugnisse. Die ESMA kann auf diese Weise verbindliche Rechtsakte für die Finanzmärkte der Mitgliedstaaten erlassen, wenn die ordnungsgemäße Funktionsweise und die Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des gesamten oder eines Teils des Finanzsystems in der Union bedroht sind.
Im Mai 2012 erhob das Vereinigte Königreich beim Gerichtshof Klage auf Nichtigerklärung von Art. 28 der Verordnung. Es macht insbesondere geltend, dass der ESMA ein weites politisches Ermessen eingeräumt sei, das die unionsrechtlichen Grundsätze für die Übertragung von Befugnissen missachte. Außerdem sei Art. 114 AEUV keine ordnungsgemäße Rechtsgrundlage für den Erlass von Vorschriften im Sinne des Art. 28 der Verordnung.
Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil vom 22.01.2014 Tag erstens fest, dass Art. 28 der ESMA keine eigenständigen Befugnisse einräumt, die über die Befugnisse hinausgehen, die ihr bei ihrer Errichtung verliehen wurden. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass die Ausübung der in diesem Artikel vorgesehenen Befugnisse an verschiedene Kriterien und Bedingungen geknüpft ist, die den Handlungsspielraum der ESMA einschränken.
Zum einen nämlich ist die ESMA nur dann zum Erlass von Maßnahmen nach Art. 28 befugt, wenn eine Bedrohung für die Finanzmärkte oder die Stabilität des Finanzsystems der Union mit grenzübergreifenden Auswirkungen besteht. Außerdem steht jede Maßnahme der ESMA unter dem Vorbehalt, dass keine zuständige nationale Behörde Maßnahmen ergriffen hat, um der Bedrohung zu begegnen, oder dass eine oder mehrere dieser Behörden Maßnahmen ergriffen haben, die der Bedrohung nicht in angemessener Weise gerecht werden.
Zum anderen muss die ESMA berücksichtigen, inwieweit durch die Maßnahmen die Bedrohung für die Finanzmärkte oder die Stabilität des Finanzsystems der Union signifikant verringert wird oder die Möglichkeiten der zuständigen nationalen Behörden zur Überwachung der Bedrohung signifikant verbessert werden. Ferner muss die ESMA darauf achten, dass diese Maßnahmen keine Gefahr der Aufsichtsarbitrage entstehen lassen und die Effizienz der Finanzmärkte nicht beeinträchtigen, etwa durch Verringerung der Liquidität dieser Märkte oder dadurch, dass sie bei den Marktteilnehmern eine im Vergleich zum erwarteten Nutzen unverhältnismäßig große Unsicherheit hervorrufen.
Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass die ESMA den Europäischen Ausschuss für Systemrisiken und gegebenenfalls andere zuständige Behörden konsultieren und die zuständigen nationalen Behörden über die von ihr vorgeschlagene Maßnahme unterrichten muss. Darüber hinaus muss die ESMA die Maßnahmen in geeigneten Zeitabständen (mindestens alle drei Monate) überprüfen; es handelt sich also um vorläufige Maßnahmen. Überdies kommt die detaillierte Regelung der Eingriffsbefugnisse der ESMA dadurch zum Ausdruck, dass die Kommission zum Erlass von delegierten Rechtsakten ermächtigt ist, in denen die Kriterien und Faktoren festgelegt sind, die die zuständigen Behörden und die ESMA zu berücksichtigen haben, wenn sie darüber entscheiden, ob ungünstige Ereignisse oder Entwicklungen und Bedrohungen für die Finanzmärkte oder für die Stabilität des Finanzsystems der Union vorliegen.
Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass die der ESMA eingeräumten Befugnisse genau eingegrenzt sind und vom Gericht im Hinblick auf die von der delegierenden Behörde festgelegten Ziele überprüft werden können. Daraus schließt der Gerichtshof, dass diese Befugnisse mit dem AEU-Vertrag im Einklang stehen.
Zweitens weist der Gerichtshof darauf hin, dass die ESMA, da der AEU-Vertrag es den Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union ausdrücklich erlaubt, Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zu erlassen, zum Erlass derartiger Rechtsakte ebenfalls befugt ist.
Drittens stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 28 der Verordnung die im AEU-Vertrag vorgesehene Regelung für die Übertragung von Befugnissen nicht in Frage stellt. Dieser Artikel, der der ESMA bestimmte Entscheidungsbefugnisse auf einem Gebiet einräumt, das ein spezifisches technisches Fachwissen erfordert, darf nicht isoliert betrachtet werden. Er ist vielmehr als Teil eines Regelwerks anzusehen, mit dem den zuständigen nationalen Behörden und der ESMA Eingriffsbefugnisse verliehen werden sollen, um schädlichen Entwicklungen, die die finanzielle Stabilität in der Union und das Marktvertrauen bedrohen, entgegenzutreten. Dazu müssen diese Stellen insbesondere in der Lage sein, Leerverkäufe bestimmter Finanzwerte oder Transaktionen mit Credit Default Swaps zeitweise zu beschränken, um die finanzielle Stabilität in der Union zu wahren.
Viertens hebt der Gerichtshof hervor, dass Art. 114 AEUV nicht vorsieht, dass die vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage dieser Vorschrift erlassenen Maßnahmen nur an die Mitgliedstaaten gerichtet sein dürfen. In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass der Unionsgesetzgeber durch Art. 28 der Verordnung einen geeigneten Mechanismus schaffen wollte, der es der ESMA ermöglicht, als letztes Mittel und unter ganz bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zu erlassen, die in der gesamten Union gelten und die in Form von an bestimmte Teilnehmer der Finanzmärkte gerichteten Beschlüssen ergehen können. Überdies sieht Art. 28 der Verordnung tatsächlich im Sinne des Art. 114 AEUV eine Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Überwachung einer Reihe von Wertpapieren und, in bestimmten Fällen, die Kontrolle bestimmter Handelsgeschäfte mit diesen Wertpapieren vor. Die in Art. 28 der Verordnung vorgesehenen Befugnisse haben ferner im Einklang mit Art. 114 AEUV den Zweck, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts im Finanzsektor zu verbessern. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass Art. 114 AEUV für den Erlass von Art. 28 der Verordnung eine geeignete Rechtsgrundlage ist.
Da alle vom Vereinigten Königreich geltend gemachten Klagegründe zurückgewiesen worden sind, weist der Gerichtshof die Klage insgesamt ab.
EuGH, Urteil C-270/12 vom 22.01.2014
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