• 05.10.2024 – Sozialversicherung ins Grundgesetz?

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SICHERHEIT | Medienspiegel & Presse |

Sozialversicherung ins Grundgesetz?

 

Mehr Mitbestimmung für ein starkes Sozialsystem

Krankenversicherung ins Grundgesetz? Peter Weiß fordert eine Verfassungsreform für die gesamte Sozialversicherung, um mehr Mitsprache der Versicherten und Arbeitnehmer zu gewährleisten. Bei den jüngsten Sozialwahlen war die Beteiligung erschreckend gering, obwohl es um Milliarden an Sozialbeiträgen geht. Der Experte betont, dass das derzeitige System ohne Reformen kaum zukunftsfähig ist. Zudem könnten stärkere demokratische Prozesse und verfassungsrechtliche Verankerungen das Vertrauen in die soziale Selbstverwaltung und deren Bedeutung für den sozialen Frieden stärken. Ein mutiger Vorstoß, der das deutsche Sozialsystem auf neue Füße stellen könnte.


Die Diskussion um die Verankerung der Sozialversicherung im Grundgesetz gewinnt in Deutschland zunehmend an Fahrt. Peter Weiß, der langjährige Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, hat in einem kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht zu den Sozialwahlen 2023 einen weitreichenden Vorschlag gemacht: Die Sozialversicherung, bestehend aus Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, soll verfassungsrechtlich verankert werden. Ziel dieses Vorstoßes sei es, die Bedeutung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung zu stärken und die Mitsprache der Versicherten bei wichtigen Entscheidungen zu erweitern.

Weiß betont, dass das bisherige System nicht zukunftsfähig sei, wenn keine Reformen eingeleitet würden. In der deutschen Sozialversicherung gibt es eine Besonderheit, die viele Menschen kaum wahrnehmen: Die Versicherten und Arbeitgeber sind nicht nur Zahler, sondern auch Entscheider. In der sogenannten sozialen Selbstverwaltung wählen sie die Gremien, die über die Finanzen und Leistungen der Krankenkassen und der Renten- und Unfallversicherung mitbestimmen. Doch genau dieser Aspekt ist laut Weiß in den vergangenen Jahren zunehmend in den Hintergrund geraten, da der Gesetzgeber viele Details bereits vorab regelt und den gewählten Vertretern kaum Entscheidungsspielraum lässt.

Der Vorstoß Weiß' findet zu einer Zeit statt, in der die Beteiligung an den Sozialwahlen weiter zurückgeht. 2023 waren rund 52 Millionen Menschen wahlberechtigt, aber nur etwa 20 Prozent nahmen an der Wahl teil. Damit sank die Beteiligung im Vergleich zu den letzten Sozialwahlen 2017 um fast acht Prozentpunkte. Auch die Möglichkeit, erstmals online abzustimmen, konnte die Wahlbeteiligung nicht signifikant erhöhen, obwohl 22 Millionen Wahlberechtigte bei großen Krankenkassen die Online-Stimmabgabe nutzen konnten.

Im Gegensatz dazu lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 bei knapp 77 Prozent. Der Hauptunterschied, so der Abschlussbericht zu den Sozialwahlen, liegt in der Wahrnehmung: Während Bundestagswahlen große politische Weichenstellungen mit sich bringen und Emotionen auslösen, fehlt dies bei den Sozialwahlen weitgehend. Dabei geht es um erhebliche Summen. 2023 wurden in Deutschland rund 1.250 Milliarden Euro für soziale Leistungen ausgegeben, davon mehr als 840 Milliarden Euro aus Sozialbeiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Diese Gelder sichern nicht nur die Existenz von Millionen von Menschen, sondern tragen auch maßgeblich zum sozialen Frieden bei, so Weiß.

Ein entscheidender Punkt in Weiß' Vorschlag ist die Stärkung der Demokratie innerhalb der Sozialversicherung. „Es kann nicht sein, dass diejenigen, die die Beiträge zahlen, so wenig Mitspracherecht haben“, erklärt er. Er fordert, dass die Sozialversicherung unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber organisiert wird und dieser Grundsatz in der Verfassung verankert wird. Durch eine solche Reform könnten die Sozialwahlen an Bedeutung gewinnen und die Bürger stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

Die Idee, die Sozialversicherung ins Grundgesetz zu schreiben, ist nicht neu. Bereits in der Weimarer Reichsverfassung gab es einen ähnlichen Ansatz. In Artikel 161 hieß es, dass das Reich ein Versicherungswesen unter maßgeblicher Mitwirkung der Versicherten schafft, um den Schutz vor wirtschaftlichen Risiken wie Alter und Krankheit zu gewährleisten. Eine Verfassungsergänzung nach diesem Vorbild könnte die soziale Selbstverwaltung stärken und die Demokratie im deutschen Sozialsystem festigen.


Kommentar:

Peter Weiß' Vorschlag, die Sozialversicherung ins Grundgesetz aufzunehmen, ist ein mutiger und notwendiger Schritt, um das Sozialsystem in Deutschland zukunftssicher zu gestalten. Angesichts der enormen Summen, die jedes Jahr in die sozialen Sicherungssysteme fließen, ist es nur folgerichtig, dass die Versicherten und Arbeitgeber mehr Mitsprache erhalten. Die derzeitige soziale Selbstverwaltung wirkt in vielen Bereichen wie ein zahnloser Tiger. Die Wahlbeteiligung bei den Sozialwahlen ist erschreckend niedrig, was auch daran liegt, dass die gewählten Vertreter kaum echte Entscheidungsbefugnisse haben.

Die Verankerung der Sozialversicherung im Grundgesetz könnte hier Abhilfe schaffen. Sie würde die Bedeutung der Sozialwahlen erhöhen und die Bürger stärker für die sozialen Sicherungssysteme sensibilisieren. Doch eine Verfassungsänderung allein reicht nicht aus. Es braucht auch mehr Transparenz und echte Wahlkämpfe, die den Versicherten verdeutlichen, was auf dem Spiel steht. Es geht nicht nur um abstrakte Milliardenbeträge, sondern um existenzielle Fragen wie den Zugang zu Gesundheitsleistungen, Rentenhöhen und Unfallabsicherung.

Weiß' Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung und weniger Staat trifft den Nerv der Zeit. In einer Demokratie sollten die Menschen nicht nur die Möglichkeit haben, Politiker zu wählen, sondern auch über die Verwendung ihrer Sozialbeiträge mitbestimmen können. Die Sozialversicherung ist ein Grundpfeiler des sozialen Friedens in Deutschland, und ihre Zukunft hängt maßgeblich davon ab, wie demokratisch und transparent sie organisiert ist. Die Verankerung im Grundgesetz wäre ein starkes Signal dafür, dass das Sozialsystem nicht nur ein staatliches Verwaltungsinstrument ist, sondern ein Ausdruck der Solidarität und Eigenverantwortung der Gesellschaft.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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