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Steuer & Recht |
FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 10.07.2023 zum Urteil 12 K 623/22 vom 23.11.2022 (nrkr - BFH-Az.: I B 3/23)
Der verheiratete Kläger erzielte im Streitjahr 2019 Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit aus einer Anstellung in der Schweiz (Kanton Thurgau). Er hatte einen Wohnsitz im Inland und daneben in der Schweiz eine Ein-Zimmer-Wohnung angemietet. Der Arbeitslohn des Klägers wurde in der Schweiz nicht nach der Grenzgänger-Regelung quellenbesteuert. In seiner Einkommensteuererklärung 2019 erklärte der Kläger nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) mit der Schweiz (DBA Schweiz) steuerfreie Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit. Dies entsprach der steuerlichen Behandlung in den Veranlagungszeiträumen 2017 und 2018. Das beklagte Finanzamt (FA) hatte den Kläger 2017 und 2018 nicht als Grenzgänger behandelt, da eine Rückkehr aus beruflichen Gründen aufgrund der Zeitdauer nicht zumutbar gewesen sei. Hierfür bezog sich das FA auf die für diese Jahre geltende Konsultationsvereinbarung mit der Schweiz (KonsVerCHEV). Für das Streitjahr 2019 änderte das FA seine Auffassung, weil sich mit der neuen KonsVerCHEV vom 12. Oktober 2018 in Bezug auf die Zumutbarkeit der Rückkehr Änderungen ergeben hätten. Es werde nunmehr zwischen der Art des benutzten Transportmittels unterschieden. Bei Benutzung eines Kfz sei die kürzeste Fahrstrecke und bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel die schnellste Verbindung maßgebend. Bei Personen, deren Entfernung zwischen Wohnsitz und Arbeitsstätte weniger als 100 km betrage und die Rückkehr wegen Überschreitens der zeitlichen Grenze nach der bisherigen Vereinbarung nicht zumutbar gewesen sei, könne sich eine Verschiebung des Besteuerungsrechts ergeben. Das sei beim Kläger mit einer kürzesten Strecke von 88 km der Fall. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg.
Die Einkünfte des Klägers aus seinem Schweizer Dienstverhältnis würden nicht in die inländische Bemessungsgrundlage einließen. Sie seien freizustellen und im Wege des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.
Der Kläger sei im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Er habe einen inländischen Wohnsitz. Seine Aufenthalte im Inland bei seiner Ehefrau hätten nicht nur Besuchscharakter Der unbeschränkten Steuerpflicht stehe nicht entgegen, dass der Kläger auch in der Schweiz ständig über Räume verfügen könne, die nach Art und Einrichtung zum Wohnen geeignet seien und die er auch tatsächlich nutze.
Die Einkünfte des Klägers aus nichtselbstständiger Arbeit seien nach Art. 15 Abs. 1 DBA Schweiz in der Schweiz zu besteuern. Der Kläger gelte als im Inland ansässig und sei kein Grenzgänger i. S. d. Art. 15a DBA Schweiz. Nach Art. 15a Abs. 1 DBA Schweiz könnten ungeachtet des Art. 15 DBA Schweiz Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die ein Grenzgänger aus unselbstständiger Arbeit beziehe, in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem dieser ansässig ist. Dies wäre im Streitfall die Bundesrepublik Deutschland.
Der Kläger sei zwar im Inland ansässig, weil sich hier der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen befinde (Familienwohnsitz). Der Kläger sei jedoch kein Grenzgänger. Grenzgänger sei nach Art. 15a Abs. 2 DBA Schweiz jede in einem Vertragsstaat ansässige Person, die in dem anderen Vertragsstaat ihren Arbeitsort habe und von dort regelmäßig an ihren Wohnsitz zurückkehre. Kehre diese Person nicht jeweils nach Arbeitsende an ihren Wohnsitz zurück, entfalle die Grenzgängereigenschaft nur dann, wenn die Person bei einer Beschäftigung während des gesamten Kalenderjahres an mehr als 60 Arbeitstagen auf Grund ihrer Arbeitsausübung nicht an ihren Wohnsitz zurückkehre.
Der Kläger sei an mehr als 60 Tagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht von der Schweiz ins Inland zurückgekehrt. Das Tatbestandsmerkmal „aufgrund der Arbeitsausübung“ setze berufliche Gründe voraus. Der Senat sei nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der klägerischen Darlegungslast davon überzeugt, dass der Kläger an (mindestens) 65 Tagen aufgrund seiner Arbeitsausübung, aus beruflichen Gründen, nicht an seinen Wohnsitz zurückgekehrt sei.
Da Art. 15a Abs. 2 DBA Schweiz keinen Ortsbezug aufweise, spielten Erwägungen, ob und inwieweit eine Rückkehr aufgrund der großen Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort zumutbar sei, erst dann eine Rolle, wenn es darum gehe, ob eine (schädliche) Nichtrückkehr aufgrund der Arbeitsausübung i. S. d. Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA Schweiz vorliege. In diesem Sinne könne es – entgegen der Auffassung des FA – nicht ausschließlich auf die Entfernung zwischen Wohn- und Beschäftigungsort ankommen. Maßgebend sei, ob die Entfernung aufgrund der Arbeitsausübung eine Bedeutung erlange. Entscheidend sei die spezifische Tätigkeit und Arbeitssituation. Nach diesen Grundsätzen komme es auf die Art der Tätigkeit, den Arbeitsbeginn, das Arbeitsende, die Entfernung und die Zeitdauer für eine Fahrt zwischen inländischer Wohnung und Beschäftigungsort an.
In diesem Sinne habe der Senat als Nichtrückkehrtage die Tage angesehen, an denen der Kläger nach den vorgelegten Arbeitszeitlisten für die Monate Januar, März, April, Mai, Juni, Juli und Oktober 2019 mindestens 10 Stunden pro Arbeitstag in der Schweiz beschäftigt gewesen sei. Dies seien in den Monaten Januar, März, April, Mai, Juni, Juli und Oktober 58 Tage gewesen. Hinzu komme unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglichen Aufgaben und der Darlegung in der mündlichen Verhandlung, dass nicht die gesamte tatsächliche Arbeitszeit erfasst worden sei, jedenfalls für die Monate, in denen die Arbeitszeitlisten vorlägen und es jeweils mehrere Tage gebe, an denen der Kläger fast 10 Stunden im Betrieb gewesen sei, noch jeweils 1 Tag und damit insgesamt 7 Tage. An diesen jedenfalls (58 + 7 =) 65 Tagen kehre der Kläger unter Berücksichtigung der Entfernung zum Wohnort mit einer durchschnittlichen Fahrzeit von 1,5 Stunden einfache Strecke und einem tatsächlichen Arbeitsbeginn nach den vorgelegten Arbeitszeitlisten ab 6 Uhr aufgrund der Arbeitsausübung nicht an den inländischen Wohnort zurück. Jedenfalls an diesen Tagen sei ihm eine Rückkehr nicht zumutbar gewesen, wenn am nächsten Tag seine Arbeitszeit um ca. 6 Uhr begonnen habe.
Der Würdigung, dass jedenfalls 65 Nichtrückkehrtage vorlägen, stehe auch nicht die KonsVerCHEV entgegen. Einerseits sei das Gericht an die nach Art. 15 Abs. 4 DBA Schweiz zulässige Verständigung der Vertragsstaaten nicht gebunden. Bei der KonsVerCHEV handele es sich um ein zwischenstaatliches Verwaltungsabkommen. Aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ergebe sich indes ein Vorrang des Gesetzes. Andererseits könne die KonsVerCHEV ein aus anderen Umständen abgeleitetes Auslegungsergebnis bestätigen. Die seit dem Streitjahr 2019 geltende KonsVerCHEV differenziere nach dem benutzten Verkehrsmittel. Bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel komme es auf die Zeitdauer, bei der Benutzung eines Fahrzeugs auf die einfache Entfernung an. Wäre der Zeitfaktor auch bei Benutzung eines Fahrzeugs weiterhin bedeutsam, wäre der Kläger im Streitjahr wie in den Vorjahren kein Grenzgänger und infolgedessen nicht im Inland steuerpflichtig. Ein alleiniges Abstellen auf die Entfernung widerspreche dem fehlenden Ortsbezug in Art. 15a DBA Schweiz. Hinzu komme, dass der Kläger bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kein Grenzgänger aufgrund der Fahrzeit gewesen wäre. Das benutzte Verkehrsmittel könne nicht maßgebend für die Frage sein, welchem Staat das Besteuerungsrecht zustehe.
Aus verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Gründen seien die in der KonsVerCHEV vereinbarten Kriterien für die Zumutbarkeit dahin auszulegen, dass auch eine einfache Strecke von mehr als 100 km oder der Zeitfaktor zugrunde gelegt werden könnte. Die verkehrsgünstigste Route sei auch tatsächlich vom Kläger benutzt worden. Der Grundsatz, nach dem gesetzliche Typisierungen nur zulässig seien, wenn sie widerlegbar seien, sei erst recht auf Verwaltungsabkommen anzuwenden. Könnten Typisierungen widerlegt werden, sei auch bei einer möglichen Route von weniger als 100 km zwischen Wohn- und Tätigkeitsort eine Einzelfallentscheidung erforderlich. In diesem Sinne seien die Begriffe „namentlich“ und „insbesondere“ der KonsVerCHEV dahingehend auszulegen, dass die Typisierung im Einzelfall widerlegbar sei. In diesem Sinne sei die Auslegung des Gerichts mit der KonsVerCHEV vereinbar, die eine Einzelfallentscheidung ihrem Wortlaut nach zulasse.
Quelle: Finanzgericht Baden-Württemberg Newsletter 1/2023
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