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Inflation zehrt weiter
In lediglich etwa der Hälfte der 22 EU-Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen war 2022 die Anhebung der Lohnuntergrenze stark genug, um die hohe Inflation mindestens auszugleichen. In zehn Ländern erlitten zum Mindestlohn Beschäftigte hingegen zum Teil deutliche reale Kaufkraftverluste. Vergleichsweise gut fiel die Entwicklung in Deutschland durch die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro aus: Zwischen Anfang 2022 und Anfang 2023 stiegen die Stundenlöhne von Mindestlohnbezieherinnen und -beziehern inflationsbereinigt um 12,4 Prozent – ein spürbarer Beitrag, um in der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Krise Nachfrage und Wirtschaftsentwicklung zu stützen. Das zeigt der neue internationale Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Allerdings handele es sich dabei um eine Momentaufnahme, betonen die Studienautoren Dr. Malte Lübker und Prof. Dr. Thorsten Schulten: Da die nächste Mindestlohnanpassung erst zum Januar 2024 vorgesehen ist, werde ein Teil des Zuwachses durch die weiterhin hohe Inflation in diesem Jahr aufgezehrt – anders als etwa in Frankreich, den Niederlanden oder Belgien, wo die Mindestlöhne 2023 auch unterjährig erhöht werden.
Deshalb ist es nach Analyse der Forscher auch wahrscheinlich, dass Deutschland bei der absoluten Höhe des Mindestlohns in den nächsten Monaten von mehreren dieser Länder überholt wird und den aktuellen Platz zwei in der EU wieder verliert. Zudem zeigt die Forschung, dass Haushalte mit niedrigen Einkommen überdurchschnittlich stark von der Teuerung betroffen sind, weil sie ihr Geld vor allem für Lebensmittel und Energie ausgeben, die aktuell stärksten Preistreiber. Auch in Deutschland stelle sich daher beim Mindestlohn „Kaufkraftsicherung als zentrale Aufgabe in Zeiten hoher Inflation“, betonen die WSI-Forscher in ihrer neuen Untersuchung.
18 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne zum Jahreswechsel 2023 erhöht, mehrere zudem auch während des Jahres 2022. Der mittlere Zuwachs (Medianwert) in der Europäischen Union betrug gegenüber dem 1. Januar 2022 nominal 12 Prozent. Das ist der mit Abstand höchste Wert seit dem Jahr 2000. Durch den sprunghaften Anstieg der Verbraucherpreise lag die inflationsbereinigte Steigerung im EU-Mittel aber nur bei 0,6 Prozent. Dabei fällt die Spreizung zwischen vielen Mitgliedsländern sehr groß aus: Sie reicht von einem realen Zuwachs von 12,4 Prozent beim Spitzenreiter Deutschland bis zu einem Verlust von 6,7 Prozent beim Schlusslicht Estland.
Mit einem Mindestlohn von aktuell 12 Euro steht Deutschland zum Jahresbeginn 2023 unter den EU-Ländern an Position zwei, nachdem die Bundesrepublik im Vorjahr wie durchgängig seit Einführung des deutschen Mindestlohns noch an sechster und letzter Stelle unter den westeuropäischen EU-Mitgliedern gelegen hatte. Ein deutlich höherer Mindestlohn gilt derzeit nur in Luxemburg (13,80 Euro). Mit geringem Abstand auf Deutschland folgen die Nachbarländer Belgien (11,85 Euro) und die Niederlande (11,75 Euro). In Irland müssen mindestens 11,30 Euro pro Stunde gezahlt werden, in Frankreich 11,27 Euro. Belgien, die Niederlande und möglicherweise auch Frankreich dürften in diesem Jahr aber wieder an Deutschland vorbeiziehen, weil hier die Lohnuntergrenzen bis Jahresende voraussichtlich erneut erhöht werden. In Belgien und Frankreich ist beispielsweise gesetzlich geregelt, dass der Mindestlohn zeitnah mindestens die Preissteigerung ausgleichen muss.
Außerhalb der EU haben aktuell mehrere US-Bundesstaaten, Australien, Neuseeland und Großbritannien ein ähnliches Niveau wie Westeuropa oder sogar höhere Mindestlöhne. Kein gesetzlicher Mindestlohn existiert in Österreich, den nordischen Ländern und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze, sodass der Niedriglohnsektor dort meist kleiner als in Deutschland ist.
Die Mindestlöhne in den südeuropäischen EU-Staaten reichen mit Stand 1. Januar 2023 von 4,12 Euro in Griechenland und 4,50 Euro in Portugal bis zu 6,55 Euro in Spanien. Etwas darüber liegt mit 6,96 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne niedriger. Allerdings haben Litauen und Polen mit Lohnuntergrenzen von 5,14 bzw. umgerechnet 4,87 Euro mittlerweile mehrere „alte“ südeuropäische Mitgliedsstaaten überholt. In der Tschechischen Republik müssen aktuell umgerechnet mindestens 4,23 Euro pro Stunde gezahlt werden, in Kroatien 4,05 Euro und in der Slowakei 4,02 Euro. Die EU-weit niedrigsten Mindestlöhne gelten in Rumänien mit umgerechnet 3,64 Euro, Ungarn mit 3,41 Euro und Bulgarien mit 2,41 Euro.
Die Niveauunterschiede spiegeln zum Teil unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich der Abstand zwischen den EU-Ländern mit niedriger und relativ hoher Untergrenze spürbar. Polen (in KKS knapp 8 Euro), Slowenien, aber auch Rumänien liegen bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor (fast) allen südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Das Preisniveau in Deutschland liegt über dem europäischen Durchschnitt, so dass der Mindestlohn in KKS etwas niedriger ausfällt und 10,55 Euro beträgt. Bei den westeuropäischen Nachbarn ist der Effekt noch größer.
Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne weit verbreitet. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 16 Nicht-EU-Ländern mit ganz unterschiedlichen Mindestlohnhöhen. Sie reichen von umgerechnet 1,09 Euro in Brasilien, 1,30 Euro landesweit in Russland über 6,96 Euro in Japan bis zu umgerechnet 10,90 Euro in Kanada, 11,14 Euro in Großbritannien, 12,78 Euro in Neuseeland und 14,10 Euro in Australien. „Praktisch obsolet“ ist der landesweite Mindestlohn nach Einschätzung der WSI-Experten in den USA, weil er seit 2009 nicht mehr erhöht wurde und mit umgerechnet 6,89 Euro nicht zum Überleben reicht. Daher gibt es neben der sehr niedrigen nationalen in mittlerweile 27 US-Bundesstaaten und Washington DC höhere regionale Untergrenzen. So beträgt der Mindestlohn in Kalifornien umgerechnet 14,72 Euro und in New York 13,49 Euro.
Trotz einer leichten Abschwächung des Preisdrucks bleibt die hohe Inflation mindestens auch in diesem Jahr eine große Herausforderung für die Mindestlohnpolitik in Europa und auch Deutschland, konstatieren die WSI-Experten Lübker und Schulten. Wichtige Orientierungssignale für den Umgang damit setze die im Oktober 2022 verabschiedete Europäische Mindestlohnrichtlinie, indem sie die „Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten“ als eines von mehreren Kriterien für angemessene Mindestlöhne verbindlich vorschreibt. Auch die deutsche Mindestlohnkommission sollte deshalb die Reallohnsicherung im Blick haben, wenn sie über die nächste Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar 2024 berät, schreiben die Forscher. Nennenswerter zusätzlicher Inflationsdruck sei auch bei spürbaren Erhöhungen der europäischen Mindestlöhne nicht zu befürchten. Das zeigen unter anderem Studien der Europäischen Zentralbank und der Bundesbank, die die WSI-Experten zitieren.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
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