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Steuer & Recht |
Eine jüngere Entscheidung des höchsten europäischen Gerichts wirft mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Handelt es sich dabei um eine Einzelfallentscheidung oder tatsächlich um eine Abkehr vom bisherigen Wirtschaftskreislaufgedanken?
Zugegeben, das Thema wirkt sperrig. Aber es betrifft zahlreiche Importunternehmen und Logistikdienstleister. Gemeint sind Einfuhren aus Drittländern in die Europäische Union (EU) oder nach Deutschland. Jedoch nicht jene Fälle, bei denen alles glattgeht, sondern die, bei denen etwas schiefgegangen ist, also Fehler passiert sind, rechtlich gesprochen Zollverstöße begangen wurden, die in der Praxis angesichts der Komplexität der zollrechtlichen Vorschriften auf vielfältige Art und Weise immer wieder auftreten. Aus Sicht der Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) stellen sich folgende Fragen: Begründet ein Zollverstoß eine Einfuhrumsatzsteuerschuld? Und entfällt diese, wenn die Zollschuld wegfällt? Zur Lösung dieser Fragen hat sich in der Rechtsprechung der sogenannte Wirtschaftskreislaufgedanke entwickelt. Der Begriff ist jedoch schwer fassbar, dementsprechend kasuistisch sind die bisher ergangenen Urteile. Die jüngste Rechtsprechung hat ebenfalls keine Klarheit gebracht, sondern mehr Fragen aufgeworfen.
Die EUSt-Schuldentstehung richtet sich bei Zollverstößen nach § 21 Abs. 2 Umsatzsteuergesetz (UStG) in Verbindung mit Art. 79 Unionszollkodex (UZK). Nach der seit 2016 etablierten ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist diese Verknüpfung jedoch durchaus nicht zwingend (vgl. EuGH 02.06.2016, Rs. C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution; 01.06.2017, Rs. C-571/15, Wallenborn Transports; 10.07.2019, Rs. C-26/18, Federal Express). Vielmehr setzt eine EUSt-Schuldentstehung voraus, dass die betreffenden Waren in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sind und somit einem Verbrauch, also einem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten. Die Entstehung von Zoll- und EUSt-Schuld können nach der EuGH-Rechtsprechung also durchaus auseinanderfallen.
Veranschaulicht werden kann der Wirtschaftskreislaufgedanke anhand des EuGH-Urteils in der Rs. Federal Express. Dabei ging es um den Transport von Waren aus Drittländern, die über Deutschland vorschriftswidrig ins Zollgebiet der Union verbracht und in weiterer Folge an den Bestimmungsort nach Griechenland befördert wurden. Eine EUSt-Schuldentstehung setzt nach Ansicht des EuGH voraus, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sein müssen. Dabei ist grundsätzlich zu vermuten, dass die Waren in jenem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf eingegangen sind, in dem das Fehlverhalten erfolgte. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Sofern nachgewiesen werden kann, dass trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens ein Gegenstand erst im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats (Bestimmungsland) in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt ist beziehungsweise gelangen soll, entsteht die EUSt-Schuld nur im Bestimmungsland. Denn die EUSt kann nur einmal entstehen. Dies gilt auch dann, wenn die Zollschuld in einem anderen Mitgliedstaat entstanden ist. Im konkreten Fall wurde die Ware trotz Zollverstoß unzweifelhaft nicht in Deutschland verbraucht, sondern nach Griechenland transportiert und ist erst dort in den Wirtschaftskreislauf eingegangen. Dementsprechend war die EUSt nicht in Deutschland, sondern in Griechenland festzusetzen.
Der Wirtschaftskreislaufgedanke wurde bereits von den deutschen Finanzgerichten (FG) aufgegriffen. Das FG Hamburg bestätigte, dass selbst die Beeinträchtigung von zollamtlichen Kontrollmöglichkeiten, die sich zwingend aus der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung ergebe, nicht das Entstehen der EUSt-Schuld rechtfertige und dass die EUSt-Schuld nur bei Eingang der Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union entstehe (Urteil vom 19.11.2019, 4 K 250/16). Zudem dürfe der Nachweis des Eingangs der Ware in den Wirtschaftskreislauf eines anderen EU-Mitgliedstaats oder eines Drittstaats nicht an die Versteuerung dieses Gegenstands in diesem Staat geknüpft werden, sofern dieser Nachweis bereits anderweitig geführt werden könne, etwa indem nachgewiesen werde, dass die Gegenstände an ihren endgültigen Bestimmungsort befördert wurden. Das FG München konkretisierte, dass es für die Verwirklichung des Einfuhrtatbestands nicht ausreiche, wenn Gegenstände körperlich in das Gebiet der EU gelangen (Urteil vom 09.04.2019, 14 K 408/17). Gegenstände gelangen insbesondere dann in den Wirtschaftskreislauf der EU, wenn ihre Verwendung die Güter-, Dienstleistungs- und Geldbewegungen zwischen den Wirtschaftssubjekten, insbesondere Unternehmen, privaten Haushalten, Banken und Versicherungen sowie staatlichen Stellen, beeinflusst. So gelangt ein Flugzeug, das zur Personenbeförderung auf Inlandsflügen eingesetzt wird, in den Wirtschaftskreislauf, nicht aber ein Flugzeug, das nach kurzem Aufenthalt wieder in die Schweiz zurückkehrt. Die EUSt entsteht erst, wenn das Flugzeug mit zumindest einer Passagierin oder einem Passagier in Richtung Beförderungsziel abhebt, weil erst mit dem Start eine steuerbare Dienstleistung erbracht werde, so das FG Hamburg (Urteil vom 04.05.2020, 4 V 28/20). Dieser Grundsatz greift nach dem FG Baden-Württemberg auch, wenn ein Fahrzeug nach kurzer Fahrt zum Übergabeort in einem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf gelangt (Urteil vom 22.10.2019, 11 K 2256/17). Das FG Hamburg entschied, dass die jüngere EuGH-Rechtsprechung zur EUSt-Schuldentstehung, insbesondere die Rs. Federal Express, auch auf das vorschriftswidrige Verbringen von Waren, die für einen anderen Mitgliedstaat bestimmt sind, anwendbar sei, wenn diese im Erhebungsmitgliedstaat beschlagnahmt werden (Urteil vom 14.01.2020, 4 K 123/15). Eine EUSt-Schuld entstehe nur, wenn eine Ware vor der Sicherstellung im Erhebungsgebiet dort in den Wirtschaftskreislauf der EU eingegangen sei. Dies setze eine über den Transit hinausgehende Behandlung der Ware voraus, die zur Entstehung eines steuerbaren Umsatzes geführt habe oder führen würde. Das FG Hamburg betonte weiter, dass durch eine Beschlagnahme die Ware zwar nicht räumlich aus einem Mitgliedstaat verbracht werde, jedoch durch das öffentlich-rechtliche Verfügungsverbot gleichwohl – genau wie bei der Wiederausfuhr oder einer Verbringung – dem Wirtschaftskreislauf des Erhebungsmitgliedstaats entzogen werde. Schließlich hielt das FG Hamburg fest, dass nach der EuGH-Rechtsprechung Waren, die einer zollamtlichen Überwachung entzogen oder vorschriftswidrig verbracht werden, diese in dem Mitgliedstaat, in dem die Entziehung oder die Verbringung stattgefunden habe, in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangen (Urteil vom 04.06.2021, 4 K 135/17). Allerdings handle es sich bei dieser Annahme lediglich um eine gesetzliche Vermutung, die widerlegt werden könne. Der Beweis des Gegenteils sei erst erbracht, wenn nachgewiesen werde, dass trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens ein Gegenstand im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem dieser Gegenstand zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sei. In der Folge trete der Tatbestand der Einfuhr in diesem anderen Mitgliedstaat ein. Diese Grundsätze gelten nach Ansicht des FG Hamburg auch im vorliegenden Fall des vorschriftswidrigen Verbringens.
Im deutschen Schrifttum wurde die Rechtsprechungslinie zum Eingang in den Wirtschaftskreislauf und deren Rezeption durch die deutschen FG auch kritisiert (vgl. Thaler, Die Rechtsprechung des EuGH zum Einfuhrumsatzsteuerrecht – ein aktueller Sachstand, ZfZ 2021, 172 f.). Würde bei einem Schmuggel die ohne Zollanmeldung geschmuggelte und daher unter Zollverstoß verbrachte Ware durch die Täter weiterbefördert, wäre es den Tätern nach der Rechtsprechung des FG Hamburg möglich, durch den Nachweis des geplanten Transits in einen anderen Mitgliedstaat oder in ein Drittland die Summe der hinterzogenen EUSt auf null zu reduzieren, da diese ja nicht in Deutschland entstanden sei. Darüber hinaus bestünde das Risiko, dass Täter sich durch eine entsprechende Argumentation vor den Strafgerichten auch bei Sicherstellung der Ware an der ersten Eingangszollstelle von der im Raum stehenden (Versuchs-)Strafbarkeit für die Hinterziehung der EUSt entlasten können, indem sie den zumindest geplanten Transit in einen anderen Mitgliedstaat oder in ein Drittland nachweisen.
Das jüngste EuGH-Urteil vom 7. April 2022 ist ein Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung zum Wirtschaftskreislaufgedanken (Rs. C-489/20, UB). Laut zugrunde liegendem Sachverhalt wurden verbrauchsteuerpflichtige Waren aus Weißrussland nach Litauen geschmuggelt. Dabei wurden Zigaretten über die Staatsgrenze geworfen und in Besitz genommen. Am selben Tag wurde das Kraftfahrzeug, das die Zigaretten innerhalb Litauens transportierte, von Grenzbeamten angehalten und man beschlagnahmte die Zigaretten. Im weiteren Verlauf wurde eine Geldstrafe verhängt und die Einziehung und Vernichtung der Zigaretten angeordnet, die ein Jahr nach der Beschlagnahme erfolgte. Die litauischen Zollbehörden schrieben Verbrauchs- und Einfuhrumsatzsteuer vor. Zoll hingegen wurde nicht vorgeschrieben, da nach Ansicht des litauischen Zollamts die Zollschuld nach Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK erloschen sei. Der EuGH führt in seinem Urteil aus, die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) enthalte keine Bestimmung, die ein Erlöschen der EUSt-Schuld im Falle des Erlöschens der Zollschuld für Schmuggelware im Sinne von Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK vorsehe. Daraus folge, dass die einmal entstandene EUSt für solche Waren fortbestehe. Das Erlöschen der entsprechenden Zollschuld sei insoweit für die EUSt ohne Bedeutung.
Der EuGH begründet die Nichtanwendbarkeit des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK in seinem jüngsten Urteil in der Rs. UB im Wesentlichen damit, dass die MwStSystRL keine entsprechende Vorschrift enthält. Aus dem vorliegenden Urteil folgert er für die Auslegung des § 21 Abs. 2 UStG, dass dieser in den Fällen des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK nicht anzuwenden sei. Mit anderen Worten läuft die Verweisung auf diesen zollrechtlichen Erlöschenstatbestand ins Leere und die EUSt-Schuld bleibt bestehen. Eine weitergehende Frage ist daher naheliegend: Ist das vorliegende Urteil dahingehend zu verstehen, dass auch die anderen Erlöschenstatbestände des Art. 124 UZK nicht auf die EUSt anwendbar sein sollen? Denn die MwStSystRL enthält hier ebenfalls keine vergleichbaren Bestimmungen. Das österreichische Bundesfinanzgericht (BFG) hat anknüpfend an das EuGH-Urteil vom 7. April 2022 jüngst entschieden, dass es bei einem Erlöschen der Zollschuld nach Art. 124 Abs. 1 lit. h UZK nicht zu einem Erlöschen der EUSt-Schuld kommt (BFG-Erkenntnis vom 29.06.2022, RV/6200006/2018).
Die Feststellungen des EuGH in der Rs. UB werfen insbesondere für den Bereich der EUSt mehr zusätzliche Fragen auf als zur Klärung beizutragen. Einerseits könnte man die Feststellungen des EuGH so interpretieren, dass er – entsprechend der Systematik des Vorabentscheidungsverfahrens – im vorliegenden Fall nur auf die explizit vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zur Anwendung des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK für den Bereich der EUSt eingegangen sei. Im Übrigen wäre er aber seine bisherige Rechtsprechung zum Eingang der Ware in den Wirtschaftskreislauf als Grundvoraussetzung für das Entstehen einer Einfuhrumsatzsteuerschuld unberührt geblieben (s. Bieber/Pichler/Summersberger, Einfuhrumsatzsteuer ohne Zoll: Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH zum Wirtschaftskreislaufgedanken, SWI 2022, 304 ff.). Andererseits könnte man die Ausführungen des EuGH jedoch auch dahingehend interpretieren, dass er das in seiner bisherigen Judikaturlinie zum Ausdruck gebrachte Erfordernis des Eingangs in den Wirtschaftskreislauf als Grundvoraussetzung für die Entstehung einer EUSt-Schuld (bewusst) aufgeben wollte. Dies würde aber bedeuten, dass künftig auch dann eine EUSt-Schuld entstehen könnte, selbst wenn von einem tatsächlichen Eingehen in einen Wirtschaftskreislauf nicht mehr die Rede sein kann. Ob es sich beim Urteil in der Rs. UB um eine Abkehr vom Wirtschaftskreislaufgedanken oder um eine Einzelfallentscheidung handelt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Insoweit ist die weitere Entwicklung in der Judikatur abzuwarten.
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