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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Apotheken-News von heute
Cybersicherheit entscheidet im Apothekenalltag über Betriebsfähigkeit, Datenschutz und das Überleben im Ernstfall – doch ohne passenden Versicherungsschutz drohen fatale Lücken, während parallel zur technischen Gefahrenlage politische Verschiebungen in der Rollenverteilung neue Konflikte auslösen, denn das Konzept „Pharmacy first“ wirkt nur mit rechtlicher Rückbindung und nicht als Ersatz für ärztliche Versorgung, gleichzeitig wird durch die falsche Interpretation von Apothekenumsätzen die Förderpolitik in die Irre geführt, weil statistische Mittelwerte die Realität der kleinen Betriebe verschleiern, flankiert von juristischen Grenzmarkierungen wie dem EuGH-Urteil gegen das Bio-Siegel auf Arzneitee, das Werbung und Arzneimittelrecht klar trennt, während Jugendliche mit Typ-1-Diabetes zwischen Selbstbestimmung und Stoffwechselkontrolle sichere Beratungsräume brauchen, das Medizinforschungsgesetz den Studienstandort Deutschland stärkt und gleichzeitig durch die geheimen Erstattungspreise im MFG der Verdacht politisch induzierter Pharmadeals mit Konzernen wie Eli Lilly wächst, während HIV-Neudiagnosen auf hohem Niveau neue Risikoprofile offenbaren, eine Brustkrebstherapie unerwartete Schutzmechanismen gegen Alzheimer zeigt und die WHO eindringlich vor Millionen vermeidbarer Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten warnt.
Daten schützen heißt Zukunft sichern, Apotheken sichern Verantwortung, Cyberversicherer sichern Existenzen
Digitale Unsicherheiten fordern betriebliche Strategien, rechtliche Pflichten verlangen aktives Risikomanagement, Versicherungen werden zur Schlüsselsicherung im Apothekenbetrieb
Der Begriff Cybersicherheit klingt für viele Apothekeninhaber nach abstrakter Hochtechnologie, nach Silicon Valley, Rechenzentren oder Industrieanlagen. In Wahrheit ist es genau das Gegenteil. Digitale Sicherheit entscheidet heute über den ganz praktischen Alltag in Apotheken – über den Schutz sensibler Daten, über den reibungslosen Ablauf bei der Abgabe von Arzneimitteln, über die Erfüllung gesetzlicher Meldepflichten und über das Vertrauen, das Patientinnen und Patienten in eine Institution setzen, die mehr als nur Medikamente verwaltet. Und doch bleibt in vielen Apotheken die Gefahr abstrakt, solange kein konkreter Schaden auftritt. Das ist der gefährlichste Irrtum der Gegenwart.
Seyfettin Günder, Experte für Risikomanagement und Versicherungsabsicherung im Apothekenbereich, beobachtet diese Diskrepanz zwischen technischer Realität und mentaler Wahrnehmung seit Jahren. Für ihn ist klar: Eine Apotheke ist kein isolierter Ort mehr, sondern ein vollständig digital integrierter Gesundheitsknotenpunkt, durchzogen von Schnittstellen, Geräten, Benutzerkonten, Datenströmen und Haftungsmechanismen. Diese Struktur ist komplex – und sie ist verletzlich. Wer das nicht erkennt, agiert in einer Betriebsblindheit, die existenzielle Folgen haben kann. Denn Angriffe, Fehlbedienungen, Datenverluste oder Pannen entstehen nicht mehr nur durch zielgerichtete Hackerangriffe, sondern oft durch banale Alltagsfehler, automatisierte Scanangriffe, unbeaufsichtigte Geräte oder unklare Prozesse.
Was viele unterschätzen: Die rechtlichen Konsequenzen beginnen nicht erst mit dem großen Datenabfluss, sondern mit jedem einzelnen Verstoß gegen die Grundprinzipien der DSGVO. Wird ein E-Rezept etwa ohne ausreichende Verschlüsselung übertragen, ungesichert auf einem privaten Smartphone gespeichert oder versehentlich über eine unsichere Cloud synchronisiert, ist das bereits ein meldepflichtiges Ereignis. Innerhalb von exakt 72 Stunden muss dann die zuständige Aufsichtsbehörde informiert, die betroffene Person benachrichtigt und eine vollständige interne Dokumentation erstellt werden. Diese Anforderungen sind gesetzlich verankert und inhaltlich nicht verhandelbar. Wer in diesem Moment keine vorbereiteten Abläufe, keine Verantwortlichen, keine definierten Kommunikationsketten und keine belastbare Struktur vorweisen kann, handelt fahrlässig – mit allen Konsequenzen.
Dabei genügt häufig schon eine einzige Unachtsamkeit, um diesen Meldeprozess auszulösen. Ein Beispiel: Eine Mitarbeiterin postet ein Bild aus dem Laborbereich auf Instagram. Im Hintergrund ist ein Bildschirm mit geöffnetem Rezeptdatensatz zu sehen. Das Bild geht online, wird geteilt, gespeichert, kommentiert – und gerät in die Sichtbarkeit. Ab diesem Zeitpunkt läuft die Uhr. Ob die Veröffentlichung bewusst oder versehentlich geschah, ist dabei ebenso irrelevant wie die Anzahl der erreichten Personen. Es zählt allein die Tatsache, dass personenbezogene Gesundheitsdaten ohne rechtliche Grundlage offen zugänglich wurden. Und genau in solchen Momenten zeigt sich, ob eine Apotheke vorbereitet ist oder nicht.
Für Günder steht fest: Cybersicherheit beginnt nicht mit der Firewall, sondern mit Haltung, Struktur und Bereitschaft. Technik sei wichtig, aber nie ausreichend. Die wirklichen Schwächen entstehen im Zusammenspiel von unklarer Verantwortung, fehlender Risikosensibilität und mangelnder Versicherungskompetenz. Eine Apotheke könne heute nicht mehr davon ausgehen, dass klassische Betriebshaftpflichtversicherungen alle digitalen Risiken abdecken. Im Gegenteil: Viele Policen enthalten explizite Ausschlüsse für IT-Schäden, Datenverluste oder systemische Angriffe. Wer also glaubt, im Schadensfall automatisch abgesichert zu sein, irrt – und das kann teuer werden.
Ein zentrales Element des Sicherheitskonzepts, das Günder für Apotheken entwickelt hat, ist deshalb die Integration von technischen, organisatorischen und versicherungsrechtlichen Elementen in eine ganzheitliche Sicherheitsarchitektur. Dazu gehört zum einen die technische Ebene: aktuelle Betriebssysteme, regelmäßige Updates, Zugangskontrollen, gesicherte Netzwerke, verschlüsselte Kommunikation, externe Back-ups. Auf der organisatorischen Seite steht die Schulung: Jedes Teammitglied muss wissen, wie Daten geschützt, weitergegeben oder verarbeitet werden dürfen, wie mit Phishing-Mails umzugehen ist, welche Passwörter zulässig sind und wer im Notfall zu informieren ist. Und schließlich – nicht weniger entscheidend – die versicherungsrechtliche Absicherung: Eine Cyberversicherung, die nicht nur Betriebsausfall und Lösegeldforderungen abdeckt, sondern auch juristische Hilfe, Reputationsschutz, Datenwiederherstellung, Meldungsmanagement und langfristige Beratung bietet.
Doch auch hier warnt Günder vor Fehleinschätzungen. Eine Versicherung leistet nur, wenn vorher die Voraussetzungen erfüllt wurden. Wer keine regelmäßigen Audits durchführen lässt, keine technischen Standards einhält oder keine Schulungen nachweist, verliert im Zweifel nicht nur den Schutz, sondern riskiert auch Rückforderungen oder Prämienerhöhungen. Besonders sensibel sei dabei die sogenannte Obliegenheitsverletzung – also der Bruch vertraglicher Nebenpflichten. Wer beispielsweise eine neue Rezeptsoftware einführt, ohne die Sicherheitsarchitektur anzupassen, verändert das Risiko – und muss den Versicherer darüber informieren.
Ein wachsendes Problem sieht Günder außerdem in der zunehmenden Komplexität digitaler Apothekeninfrastruktur. Neben klassischen Kassensystemen und Warenwirtschaft kommen heute Botendienste, Rezeptplattformen, Mobilgeräte, Webportale, Großhändlerverbindungen, Messenger-Dienste und Cloudsysteme zum Einsatz. Jedes dieser Systeme öffnet neue Schnittstellen, produziert neue Daten und erzeugt neue Haftungsräume. Besonders gefährlich wird es, wenn digitale Dienste über Drittgeräte laufen, etwa Rezeptversand über private Handys, Patientenkommunikation über WhatsApp oder Botenzugriff über nicht abgesicherte Apps. All diese Vorgänge unterliegen der strengen Regulierung der Datenschutzaufsicht – und sie sind häufig weder vertraglich noch technisch korrekt abgesichert.
Für Apotheken, die handlungsfähig bleiben wollen, ist deshalb eine neue Haltung erforderlich. Die Frage lautet nicht mehr: „Wie verhindere ich einen Angriff?“ – sondern: „Wie bin ich vorbereitet, wenn der Angriff oder der Fehler passiert?“ Denn der eigentliche Schaden entsteht nicht durch den Vorfall selbst, sondern durch das, was danach nicht geschieht: keine Meldung, keine Nachvollziehbarkeit, kein Plan, keine Kommunikation.
Der Schlüssel zur Resilienz liegt in der Verknüpfung von Führung, System und Versicherung. Nur wenn alle Ebenen aktiv gestaltet, gepflegt, dokumentiert und regelmäßig aktualisiert werden, entsteht eine Schutzarchitektur, die auch im Ernstfall hält. Und nur wer Verantwortung nicht delegiert, sondern integriert, kann der Realität der digitalen Gesundheitsversorgung gerecht werden.
Sicherheit ist keine App, kein Kauf, kein Zustand. Sie ist ein Führungsprinzip. Apotheken, die das begreifen, investieren nicht nur in Schutz, sondern in Stabilität, Verlässlichkeit und Zukunft.
Kompetenzverschiebung fordert neue Bündnisse, Versorgungsgrenzen provozieren Systemfragen, britische Modelle taugen nicht als Vorlage
Erweiterte Apothekenkompetenzen benötigen ärztliche Mitwirkung und gesetzliche Klarheit, das Patientenwohl entscheidet über die Rollenverteilung, nationale Versorgung darf kein britisches Krisenmodell kopieren
Der Ruf nach mehr Kompetenzen für Apotheker wird lauter – und längst nicht mehr nur vonseiten der ABDA. Auch politische Schwergewichte wie NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann fordern, die „pharmazeutische Expertise stärker ins Versorgungsgeschehen einzubinden“. Der Begriff „Pharmacy first“, entlehnt dem britischen Vorbild, suggeriert eine Verlagerung erster Anlaufstellen für Bagatellerkrankungen – eine Idee, die medizinisch wie strukturell reizvoll klingt, zugleich aber neue Frontlinien im Heilberufekonflikt eröffnet. Wer das ernst meint, muss mehr liefern als PR-Schlagworte und Zuständigkeitsdebatten.
Laumanns Vorschlag, das Berufsbild des Apothekers „breiter zu denken“, setzt dabei implizit voraus, dass es bisher zu eng gefasst war. In der Tat haben sich Apotheken in Modellvorhaben wie ARMIN als wirksame Partner in der Arzneimitteltherapiesicherheit erwiesen. In diesen sektorübergreifenden Konzepten liegt ein reales Potenzial – nicht im Ersatz, sondern in der Ergänzung ärztlicher Versorgung. Doch die gegenwärtige Debatte läuft Gefahr, nicht zwischen therapeutischer Kompetenz und heilberuflicher Autorisierung zu unterscheiden. Wer „Husten, Schnupfen, Heiserkeit“ vollständig in Apotheken behandeln lassen will, begibt sich auf fachlich dünnes Eis.
Hinzu kommt: Jede Umverteilung heilkundlicher Verantwortung bedarf der expliziten Zustimmung der Ärzteschaft. Genau diese fehlt aber. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hat wiederholt betont, dass Apotheker keine Diagnostiker seien. Seine Aussage „Pharmazeutisch ja, behandelnd nein“ bringt auf den Punkt, was juristisch ohnehin gilt: Diagnostik und Therapie unterliegen dem Arztvorbehalt. Wer also die Rolle der Apotheken erweitern will, muss nicht nur die Ärztekammern einbinden, sondern auch das Sozialgesetzbuch überarbeiten.
Dass das britische Modell der „Community Pharmacy Consultation Service“ in Deutschland als Vorbild herhalten soll, ist mehr als fragwürdig. Großbritannien sieht sich mit einem seit Jahren dysfunktionalen Hausarztsystem konfrontiert, das zur Notlösung Apotheke greift, weil andere Wege versperrt sind. Deutsche Apotheken hingegen drohen überlastet zu werden, nicht nur durch neue Dienstleistungen, sondern auch durch die strukturelle Unterfinanzierung ihrer Kernaufgaben. Wenn nun auch noch ärztliche Tätigkeiten hinzukommen sollen, ohne zugleich Personal- und Honoraranteile anzupassen, wird aus einer Rolle der Entlastung eine neue Form von Überforderung.
Spürbar wird dies bereits bei bestehenden Aufgaben: Das Medikationsmanagement ist personell kaum abbildbar, pharmazeutische Dienstleistungen kämpfen mit geringer Bekanntheit und schleppender Umsetzung, die technische Umstellung auf E-Rezepte hat enorme Kräfte gebunden. In dieser Gemengelage mehr Verantwortung zu fordern, mag politisch mutig klingen – es droht aber, an den Realitäten der Apothekenbasis zu zerschellen.
Die Debatte trifft auch einen grundsätzlichen Nerv: die Vorstellung von Versorgung als geteiltem Prozess, nicht als exklusives Terrain einzelner Berufsgruppen. Der Blick in andere Länder zeigt: Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern funktioniert dort am besten, wo sie systemisch gedacht und strukturell verankert ist – etwa durch gemeinsame Budgets, digitale Schnittstellen oder abgestimmte Fortbildungspflichten. Der deutsche Flickenteppich aus Modellprojekten, Kompetenzstreit und unklarer Aufgabenverteilung verhindert bislang genau das.
Was also bleibt vom „Pharmacy first“-Gedanken? Eine Aufforderung zur Strukturreform, keine Blaupause zur kopieren. Apotheken sollten dort handeln, wo ihre Stärken liegen: in der Medikationssicherheit, in der Beratung, in der Versorgungslücke. Alles andere gehört in ärztliche Hände – oder gemeinsam entschieden. Wer das Prinzip „first“ ernst nimmt, muss sich fragen, wem er die Verantwortung zuerst überträgt – und wer die Risiken letztlich trägt. Ohne verbindliche Koordination wird der gut gemeinte Ruf nach Kompetenzerweiterung zur Disruption ohne Zielbild.
Umsatzverzerrung durch Spitzenbetriebe, Förderlogik unter Druck, strukturelle Fehleinschätzungen in der Debatte
Wie statistische Mittelwerte politische Instrumente verzerren, Apothekenstrukturen differenziert betrachtet werden müssen und warum Ertrag wichtiger als Umsatz ist
Der Apothekenumsatz in Deutschland betrug im Jahr 2024 laut ABDA-Berechnung rund 70,4 Milliarden Euro – bezogen auf das sogenannte „offizinrelevante Geschäft“ und exklusive des Versandhandels. Die auf den ersten Blick eindrucksvolle Summe täuscht jedoch über die strukturelle Verteilung hinweg. Denn die Umsatzverteilung ist extrem ungleich – ein Befund, der sich durch gezielte Umstrukturierung der veröffentlichten Klassen deutlich klarer herausarbeiten lässt. Während sich das ABDA-Panel (Treuhand Hannover, n = 2400 Apotheken) an einer teils unsystematischen Klasseneinteilung orientiert, ergibt die Einteilung in gleichmäßige 1-Million-Euro-Stufen ein aussagekräftigeres, statistisch robusteres Bild.
Dabei zeigt sich: Die Verteilung ist deutlich rechtsschief – ein kleines Segment besonders umsatzstarker Apotheken dominiert die obere Kante der Statistik. Die etwa 300 Apotheken mit Jahresumsätzen über 10 Millionen Euro – also nur etwa 1,8 % der Betriebe – generieren zusammen über 11 Milliarden Euro Umsatz. Das entspricht rund 16 % des gesamten Apothekenmarkts. Rechnerisch liegt der Durchschnittsumsatz in dieser Spitzengruppe bei etwa 39 Millionen Euro pro Betriebsstätte. Damit entsteht ein massiver Verzerrungseffekt in der Gesamtrechnung, denn diese Spitzenwerte lassen den allgemeinen Durchschnitt auf 4,1 Millionen Euro ansteigen – ein Wert, der für die Mehrzahl der Betriebe keinerlei Realität abbildet.
Insbesondere problematisch wird diese Verzerrung, wenn politische Instrumente – etwa strukturelle Fördermaßnahmen – an diesen Durchschnittswerten orientiert werden. Denn sie verschieben die Einschätzung der ökonomischen Leistungsfähigkeit kleiner und mittlerer Apotheken nach unten. Rechnet man die Extrembetriebe heraus, verbleiben etwa 59 Milliarden Euro in den Umsatzklassen bis 10 Millionen Euro – dort, wo sich die klassische Offizinversorgung abspielt. In dieser Gruppe beträgt der durchschnittliche Netto-Umsatz rund 3,5 Millionen Euro, der Median liegt sogar nur bei 3,1 Millionen Euro. Das heißt: Die Hälfte aller Apotheken liegt unterhalb dieser Schwelle – was mit dem rechnerischen „Durchschnitt“ von 4,1 Millionen wenig zu tun hat. Zwei Drittel aller Apotheken liegen unter 3,7 Millionen Euro, nur ein Drittel darüber.
Diese Differenz ist mehr als nur ein Rechenspiel: Sie verweist auf eine strukturelle Blindstelle in der öffentlichen und politischen Debatte. Denn die Spitzengruppe besteht zu einem erheblichen Teil aus spezialisierten Apothekenbetrieben, die ihre Umsätze nicht mit typischer Vor-Ort-Versorgung erzielen. Dazu zählen Krankenhausversorger, Spezialversender, parenterale Zubereitungen, Versorgungskonzepte für Pflegeheime und Großkunden sowie punktuell auch Apotheken mit großem Impfstoff- oder Hilfsmittelgeschäft. Nicht selten betreiben solche Einheiten zusätzlich pharmazeutisch geprägten Großhandel oder Laborleistungen, die wiederum in die Umsatzstatistik einfließen – aber nicht in die klassische Versorgungssituation einer Landapotheke übertragbar sind.
Ein weiterer Aspekt: Die Art und Weise, wie Apotheken geführt werden, beeinflusst die Bewertung zusätzlich. Zum Jahresende 2024 waren laut offizieller Statistik noch 9.400 Apotheken als Einzelbetriebe organisiert. Daneben existierten 3.134 filialisierte Inhaberstrukturen: 2.100 mit einer Filiale, 691 mit zwei und 343 mit drei Filialen – das ergibt in Summe 4.511 Filialapotheken. Wenn man vereinfacht unterstellt, dass Hauptapotheken und Filialen den Umsatz gleichmäßig tragen, ergibt sich für filialisierte Strukturen ein durchschnittlicher Umsatz von rund 8,5 Millionen Euro – faktisch liegen Filialen jedoch häufig unter dem Hauptbetriebsumsatz, sodass realistische Schätzungen eher bei 7 bis 8 Millionen Euro liegen.
Doch entscheidend ist: Filialstrukturen zeigen häufig eine schlechtere Umsatzrendite als Einzelapotheken. Die Ursachen liegen auf der Hand: zusätzliche Führungs- und Koordinationskosten, höhere Anforderungen an Personalführung, erhöhte Vorhaltekosten bei Lagerung, IT und Infrastruktur sowie steuerliche Komplexität. Während große Einzelapotheken mit starker regionaler Positionierung teils über 6 % Umsatzrendite erwirtschaften, fallen größere Verbünde durch den Renditeeffekt der Filialen häufig auf 3–4 % zurück. Einige wenige Ausnahmen erzielen auch 7–8 %, doch das ist nicht der Regelfall – insbesondere dann nicht, wenn der Umsatz durch hohe Kosten erkauft wird.
Die entscheidende Differenzierungsfrage lautet daher: Umsatz oder Ertrag? Ein typisches Beispiel verdeutlicht die Problematik. Eine städtisch gelegene Apotheke mit 4 Millionen Euro Jahresumsatz, 19 % Rohertrag und 60.000 Kunden im Jahr erzielt nominell rund 760.000 Euro Rohertrag. Eine ländlich gelegene Apotheke mit 2,5 Millionen Euro Umsatz, dafür 25 % Spanne und 40.000 Kunden, erwirtschaftet etwa 625.000 Euro Rohertrag – eine Differenz von 135.000 Euro. Diese wird allerdings sofort relativiert, wenn man Personalkosten, Raumkosten, Standortinvestitionen und tarifliche Belastungen in Städten berücksichtigt. In der Praxis kann sich so eine kleinere Landapotheke mit weniger Personal, geringerem Flächenverbrauch und niedrigerem Steuerdruck als ökonomisch solider erweisen – selbst bei deutlich geringerem Umsatz.
Ein zentraler weiterer Punkt: Der sogenannte Rx-Packungswert – also der durchschnittliche Wert pro verschreibungspflichtiger Arzneimittelpackung – ist maßgeblich für die Rohertragsmarge. Dieser Wert hängt stark vom Profil der verordnenden Ärzte ab. Hausärztliche Verordnungen sind mengenstark und margenträchtig (um 25 %), Facharztrezepte dagegen umsatzstark, aber margenschwach. Ein Neurologe beispielsweise bringt pro Packung teils dreifache Umsätze, jedoch nicht automatisch mehr Deckungsbeitrag. Wer also Apotheken nach bloßem Umsatz klassifiziert, unterschätzt die strategische Bedeutung des ärztlichen Umfelds – und damit die reale Wirtschaftskraft der Betriebe.
Was bedeutet das für die politische Förderung? Eine eindimensionale Fixierung auf Umsatzklassen greift deutlich zu kurz. Förderungswürdigkeit lässt sich nicht an Betriebsgröße, Beschäftigtenzahl oder Umsatzhöhe allein ablesen. Entscheidend ist vielmehr: Wie hoch ist der nachhaltige Rohertrag? Wie viele Kunden werden in welcher Frequenz mit welchem Aufwand betreut? Und: Wie sind die Zukunftsperspektiven am Standort? Demografie, medizinische Infrastruktur, ärztliche Versorgung, die Verkehrsanbindung, potenzielle Konkurrenz durch neue Versorgungsmodelle oder Online-Plattformen – all das sind Faktoren, die über die langfristige Überlebensfähigkeit entscheiden.
Besonders prekär ist, dass viele dieser „kleinen“ Apotheken strukturell unterschätzt und dadurch unterfinanziert werden. Dabei gilt: Eine stabile Apotheke mit 550.000 bis 600.000 Euro Rohertrag, 45 Öffnungsstunden pro Woche und konstanter Kundenbindung kann das Rückgrat der Versorgung sein – auch ohne Millionenumsatz. Man muss diese „kleinen Diamanten“ erkennen und gezielt sichern, bevor sie im Wettbewerb verschwinden. Denn wenn erst einmal Filialisten mit hohem Kapitaldruck oder aggressive Plattformstrategien den Raum übernehmen, wird die Rückholung schwieriger als gedacht.
Werbung trifft auf Arzneirecht, Bio-Siegel wird zum Streitpunkt, EuGH schützt Patientenentscheidung
Das Bio-Logo auf Arzneitees verstößt gegen EU-Recht, Werbeanreize sind bei rezeptfreien Mitteln besonders sensibel, Arzneimittel bleiben strikt reguliert
Mit seinem Urteil vom 26. Juni 2025 hat der Europäische Gerichtshof eine zentrale Trennlinie gezogen: Zwischen Arzneimittelrecht und Marketinglogik, zwischen Verbraucheraufklärung und emotional aufgeladenem Konsumversprechen, zwischen pharmazeutischer Integrität und ökologischer Imagepflege. Der konkrete Fall: Der deutsche Arzneitee-Hersteller Salus darf seine pflanzlichen Präparate nicht mehr mit dem bekannten EU-Bio-Siegel versehen, wenn sie als Arzneimittel vermarktet werden. Die Begründung: Das Logo stellt eine Form von Werbung dar, die geeignet ist, die Kaufentscheidung eines Patienten zu beeinflussen – und ist damit nach EU-Recht für Arzneimittel unzulässig.
Der Rechtsstreit hatte seinen Ausgangspunkt in einer Klage des Mitbewerbers Twardy, der argumentierte, dass ein Arzneimittel nicht zugleich mit einem Marketinglogo gekennzeichnet werden dürfe, das außerhalb der medizinischen Information liegt. Der Fall wanderte über das Landgericht Düsseldorf, das Salus bereits zur Unterlassung verurteilt hatte, bis vor den Europäischen Gerichtshof, wo er nun zu einem Präzedenzfall mit weitreichender Wirkung wurde.
Der EuGH urteilte, dass alle Arzneimittel – auch solche auf pflanzlicher Basis – den Bestimmungen des Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (Richtlinie 2001/83/EG) unterliegen. Dort ist klar geregelt, dass die Verpackung keine Werbung enthalten darf, die über medizinisch notwendige Informationen hinausgeht. Das Bio-Siegel, so die Richter, suggeriere ökologische Überlegenheit, habe aber keine belegte therapeutische Relevanz und dürfe somit nicht als Zusatzinformation auf Arzneimittelverpackungen erscheinen.
Die Entscheidung betrifft ausdrücklich auch traditionelle pflanzliche Arzneimittel, wie sie häufig in Form von Kräutertees auf dem Markt sind. Das Argument der Salus GmbH, dass es sich um ein traditionelles Produkt handle, das zugleich den Anforderungen der EU-Öko-Verordnung (Verordnung [EU] 2018/848) genüge, ließ der Gerichtshof nicht gelten. Die Richter machten klar, dass es nicht auf die Produktionsweise, sondern auf die rechtliche Einordnung des Endprodukts ankommt. Ist ein Produkt ein Arzneimittel – und das ist der Fall, wenn es vorbeugend, heilend oder lindernd wirken soll –, dann gelten die Regeln des Arzneimittelrechts vollständig und ohne Ausnahmetatbestände.
Besonders relevant: Das Urteil betont die besondere Sensibilität rezeptfreier Arzneimittel. Gerade weil sie ohne ärztliche Verschreibung erhältlich sind, könnten Logos wie das Bio-Siegel eine nichtmedizinisch fundierte Kaufentscheidung fördern. Ein Konsument könne durch das Bio-Siegel den Eindruck gewinnen, das Produkt sei natürlicher, verträglicher oder insgesamt besser für die Gesundheit – obwohl solche Aussagen nicht wissenschaftlich belegt seien und das Siegel lediglich die landwirtschaftliche Herkunft der Rohstoffe beschreibt.
Doch das Urteil schließt eine Tür, öffnet aber eine andere: Laut EuGH steht es Herstellern frei, im Zulassungsverfahren explizit nachzuweisen, dass bestimmte ökologische Anbauverfahren nachweislich einen Einfluss auf die therapeutische Qualität eines Arzneimittels haben. Sollte eine zuständige Behörde dies in einem Zulassungsbescheid bestätigen, wäre es möglich, diese Information – jedoch nicht das Bio-Siegel – als zugelassene Angabe in der Produktinformation aufzunehmen. Das wäre allerdings ein medizinal geprüfter, kein marketingstrategisch eingesetzter Weg.
Auch für Apotheken hat das Urteil Konsequenzen: Sie dürfen bei der Abgabe von Arzneitees nicht mehr mit „Bio-Argumenten“ werben, selbst wenn diese zutreffen. Die Beratung am HV-Tisch muss sich ausschließlich auf zugelassene Informationen stützen. Apothekenpersonal darf keine Aussagen zu Nachhaltigkeit, ökologischer Landwirtschaft oder anderen nichtmedizinischen Aspekten machen, sofern diese nicht Bestandteil der behördlich genehmigten Fachinformation oder Packungsbeilage sind.
Wettbewerbsrechtlich könnte das Urteil die Karten neu mischen: Unternehmen, die mit Nachhaltigkeitsclaims arbeiten, obwohl sie Arzneimittel vertreiben, müssen künftig mit Abmahnungen rechnen – von Konkurrenten ebenso wie von Verbraucherverbänden. Zudem wird der Druck auf die Werbeabteilungen wachsen, klarer zwischen Arzneimittel- und Lebensmittelkommunikation zu unterscheiden. Die bislang oft verschwimmenden Grenzen – vor allem im Bereich pflanzlicher Präparate – müssen nun eindeutig gezogen werden.
Das Urteil ist auch ein Signal an alle, die an der Schnittstelle von Pharmazie, Marketing und Gesundheitspolitik agieren. Die Tendenz, Arzneimittel als Lifestyleprodukte zu positionieren, trifft auf klare juristische Grenzen. Es geht nicht nur um Logos und Labels – es geht um Vertrauen, wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit und die Abgrenzung von Arzneimitteln gegenüber Konsumgütern.
Eine offene Frage bleibt: Wie wird die Industrie auf das Urteil reagieren? Denkbar sind neue Anträge auf Zulassung ökologischer Anbauverfahren als Qualitätsfaktor. Ebenso möglich: ein verstärkter Rückgriff auf den Bereich der Nahrungsergänzungsmittel, wo Bio-Logos weiterhin zulässig sind – mit allen Risiken der Umdeklarierung.
Im Ergebnis bedeutet die Entscheidung des EuGH: Arzneimittelkommunikation bleibt ein Sonderbereich, in dem nicht das attraktivste Etikett, sondern der nachgewiesene Nutzen zählt. Das Bio-Siegel mag eine legitime Aussage über landwirtschaftliche Standards sein – es ist jedoch kein Beweis für medizinische Wirksamkeit. Genau darin liegt die klare Botschaft dieses Urteils.
Jugend will frei sein, Diabetes braucht Struktur, Beratung schafft Sicherheit
Zwischen Selbstbestimmung und Stoffwechselkontrolle wächst die Sehnsucht nach Normalität, Alkohol und Sexualität erfordern Wissen und Planung, geschützte Beratung eröffnet Handlungsspielräume
Jugendliche mit Typ-1-Diabetes leben in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite stehen Neugier, Erkundungslust und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, auf der anderen die Pflicht zur Selbstkontrolle, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und die Gefahr metabolischer Entgleisung. Besonders deutlich wird dieser Konflikt in Situationen, die eigentlich leicht und unbeschwert sein sollten – beim Feiern, Trinken, Flirten. Was für viele Gleichaltrige selbstverständlich ist, erfordert für Betroffene eine genaue Vorbereitung, tiefes Verständnis der eigenen Erkrankung und oft auch Mut, sich gegenüber Freund:innen oder Partner:innen zu erklären.
Der Verband der Diabetesberatungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD) stellt klar: Das Problem ist nicht der Wunsch nach Spaß – sondern der Mangel an Sicherheit. Denn viele Jugendliche wissen schlicht nicht, wie sich Alkohol, körperliche Aktivität, wenig Schlaf oder sexuelle Begegnungen auf ihren Blutzucker auswirken. Es fehlt an altersgerechter Aufklärung, an Gesprächsangeboten außerhalb des klinischen Rahmens, an einem Umfeld, das informiert ist, ohne zu urteilen.
Dabei sind die physiologischen Mechanismen gut bekannt: Alkohol dämpft die Fähigkeit der Leber, gespeicherten Zucker freizusetzen. Das erhöht das Risiko nächtlicher Hypoglykämien, insbesondere bei gleichzeitiger Insulingabe oder körperlicher Belastung. Tanz, Bewegung, stundenlanges Wachsein und Stress durch soziale Situationen wirken zusätzlich blutzuckersenkend. Gleichzeitig enthalten viele Drinks Zucker, was die Werte zunächst steigen lässt – bevor der Absturz folgt.
Was daraus folgt, ist nicht die Forderung nach Verzicht, sondern nach Vorbereitung. Der VDBD empfiehlt Jugendlichen, ihren Blutzucker vor dem Ausgehen bewusst etwas höher einzustellen, etwa auf 160 mg/dl. Auch das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) sollte mit optimierten Alarmgrenzen arbeiten, um frühzeitig vor Hypoglykämien zu warnen. Wer ein AID-System nutzt, kann temporäre Einstellungen aktivieren, um die Insulinabgabe anzupassen. Besonders wichtig: Das Mitführen eines Notfallsets mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten, Glucagon (auch wenn unter Alkohol eingeschränkt wirksam) und einem medizinischen Hinweis – per Armband, Handykarte oder QR-Code.
Doch technisches Wissen allein genügt nicht. Entscheidend ist, dass sich Jugendliche mit ihrem Umfeld verständigen. Freund:innen müssen wissen, was bei einem Notfall zu tun ist, wie sie Symptome erkennen und wann sie Hilfe holen müssen. Diese Einbindung stärkt nicht nur die Sicherheit – sondern auch das Vertrauen in sich selbst. »Wer weiß, dass andere Bescheid wissen, geht entspannter in die Nacht«, sagt Gülcan Celen, Diabetesberaterin an den DRK Kliniken Berlin.
Ein ebenso sensibles Thema ist die Sexualität. Sie wird in der medizinischen Aufklärung oft ausgeklammert, obwohl körperliche Nähe ebenfalls Einfluss auf den Glukosestoffwechsel hat. Sexuelle Aktivität senkt den Blutzucker – durch Bewegung, hormonelle Reaktionen, Aufregung. »Viele Jugendliche trauen sich nicht, solche Fragen zu stellen«, sagt Yvonne Häusler, VDBD-Vorstandsmitglied. »Dabei geht es nicht um Intimität, sondern um Sicherheit.« Die Beratung bietet hier den Rahmen, auch über Sensorpositionen, das Abkoppeln der Pumpe oder die Rolle kleiner Snacks nach dem Sex zu sprechen.
Nicht selten sind es die kleinen Maßnahmen, die große Wirkung zeigen: ein offenes Gespräch mit der Clique, ein Notfallriegel in der Tasche, ein Sensoralarm auf vibrierend gestellt. Wer weiß, wie sein Körper reagiert, kann Verantwortung übernehmen – ohne auf Lebensfreude zu verzichten.
Diabetes bedeutet, ein zweites Gehirn im Körper zu führen – eines, das unermüdlich Daten verlangt, Zusammenhänge bewertet, Entscheidungen einfordert. Gerade Jugendliche spüren dabei oft den Druck, funktionieren zu müssen. Doch was ihnen fehlt, ist nicht Disziplin – sondern Ermutigung. Die Aufgabe des Gesundheitswesens ist es, Brücken zu bauen zwischen Freiheit und Fürsorge. Nur wenn Jugendliche nicht belehrt, sondern begleitet werden, können sie zu Experten für sich selbst werden – auch in der Nacht, wenn Musik und Hormone regieren.
Kanzleramt verteidigt Geheimpreise, Kritik an Pharmadeals, Investitionspolitik unter Verdacht
Vertrauliche Erstattungsklauseln als Staatsräson, Verdachtsmomente auf politische Gegenleistungen, strategische Industrieansiedlungen unter Transparenzdruck
Die Bundesregierung rechtfertigt die Einführung vertraulicher Erstattungspreise im Rahmen des Medizinforschungsgesetzes (MFG) mit einer übergeordneten industriepolitischen Strategie. Das Kanzleramt bestätigte gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung, dass diese Maßnahme Teil des offiziellen Handlungskonzepts zur Stärkung des Pharmastandorts Deutschland sei. Dass dabei ausgerechnet der Pharmakonzern Eli Lilly profitiert, der zeitgleich milliardenschwere Investitionen in ein neues Werk in Alzey angekündigt hatte, heizt den Verdacht gezielter Gegengeschäfte weiter an – auch weil Regierungsstellen nun enge Kontakte mit dem Konzern einräumen, während der Inhalt dieser Gespräche unter Verschluss bleibt.
Das MFG, das seit Oktober 2023 in Kraft ist, sieht vor, dass Hersteller ihre mit den Kassen vereinbarten Erstattungspreise nicht mehr öffentlich machen müssen. Diese neue Vertraulichkeit verändert das gesamte internationale Preissetzungsgefüge – denn viele Länder orientieren sich traditionell am deutschen Rabattpreis. Der bisherige öffentliche Zugriff entfällt, was die Verhandlungsbasis anderer Staaten schwächt und den Herstellern Spielraum verschafft. Es ist eine ökonomisch kalkulierte Intransparenz, deren politische Absicht nun erstmals offiziell aus dem Kanzleramt bestätigt wird: Deutschland wolle sich im globalen Wettbewerb um Pharma-Ansiedlungen besser aufstellen – selbst um den Preis verminderter Nachvollziehbarkeit.
Ein internes Papier aus dem Bundesgesundheitsministerium vom 13. September 2023 liefert laut Recherchen von SZ, NDR, WDR und Investigate Europe Hinweise auf konkrete Forderungen des US-Herstellers Eli Lilly an die Bundesregierung. Im selben Zeitraum forcierten Kanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach das Gesetzesvorhaben. Parallel kündigte Eli Lilly an, 2,3 Milliarden Euro in ein neues Werk in Rheinland-Pfalz zu investieren. Der Eindruck politisch abgestimmter Gegenleistungen lässt sich nicht entkräften – zumal nun auch der E-Mail-Verkehr zwischen Kanzleramt und Konzern publik wird. Die Plattform „Frag den Staat“ dokumentiert Korrespondenz bis Juli 2024. Der Eindruck, dass Investitionszusagen und gesetzgeberisches Entgegenkommen sich strukturell gegenseitig bedingen, wird dadurch weiter verfestigt.
Das Kanzleramt räumt Gespräche ein: mit dem damaligen Kanzler Scholz, mit Staatssekretär Jörg Kukies und mit Vertretern des Konzerns. Details? Vertraulich. Ob Inhalte tatsächlich dem entsprechen, was die Presseberichte nahelegen? Keine Stellungnahme. Mit dieser Formel will man sich rechtlich absichern – und politisch entlasten. Dabei entsteht der gegenteilige Effekt: Denn eine Regierung, die auf Geheimhaltung setzt, statt auf aktive Kommunikation, verstärkt den Eindruck selektiver Vorteilsgestaltung.
Die Bundesregierung beruft sich auf strategische Notwendigkeit: Die Pharmaindustrie fordere seit Jahren die Möglichkeit vertraulicher Preise, um im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Regelung sei Bestandteil des offiziellen Pharmastrategiepapiers – gemeinsam mit beschleunigten Zulassungsverfahren, steuerlicher Forschungsförderung und Ansiedlungsanreizen. Doch genau diese Kumulierung macht das Problem sichtbar: Wenn Standortförderung durch Entgegenkommen bei Preistransparenz erkauft wird, verliert die Politik an Legitimation – nicht, weil Industriepolitik per se illegitim ist, sondern weil sie sich der öffentlichen Kontrolle zunehmend entzieht.
Die Kritik, dass der Gesetzgeber durch das MFG nicht nur wirtschaftspolitisch agiert, sondern gezielt Unternehmensinteressen bedient, ist also nicht bloß populistisch. Sie ist eine nüchterne Analyse struktureller Nähe zwischen politischen Machtzentren und industriellen Kapitallogiken. Und sie verweist auf ein wachsendes Transparenzdefizit in der deutschen Arzneimittelpolitik. Wer Milliardeninvestitionen öffentlich inszeniert, darf nicht gleichzeitig die Regeln, die solche Investitionen flankieren, im Dunkeln halten.
Bürokratieabbau trifft auf Forschungspolitik, Studienstandort gewinnt Dynamik, Industrie fordert Systemwechsel
Das Medizinforschungsgesetz beschleunigt klinische Prozesse und stärkt die Universität, die Industrie pocht auf internationale Wettbewerbsfähigkeit, Experten fordern ein translationales Ökosystem
Mit dem Inkrafttreten des Medizinforschungsgesetzes im Oktober 2024 hat Deutschland ein neues Kapitel in der Regulierung und Förderung klinischer Forschung aufgeschlagen. Die Neuregelung, die vom Bundesgesundheitsministerium als Antwort auf langjährige Kritik an der bürokratischen Überfrachtung des Studienstandorts formuliert wurde, zeigt nun erste Wirkungen. Beim Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit wurde das Gesetz von Fachleuten, Industrievertretern und politischen Akteuren nicht als bloßer Gesetzestext diskutiert, sondern als politisches Signal mit operativer Relevanz. Dabei standen nicht die üblichen Klagen über Standortdefizite im Zentrum, sondern erstmals konkrete Erfolge.
Jens Scholz, Anästhesist und wissenschaftlicher Leiter des Forums Medizin und Innovation, erklärte auf dem Panel »Das Medizinforschungsgesetz im Qualitätscheck«, dass man in Deutschland erstmals seit Jahren ein echtes Momentum wahrnehme. Die Verkürzung der Fristen für Studiengenehmigungen – konkret: auf 26 Tage – habe ein klares Signal in Richtung Effizienz gesendet. Auch die Implementierung neuer strahlenschutzrechtlicher Regelungen sei nicht nur ein technisches Detail, sondern ein weiterer Schritt zur praktischen Beschleunigung. Scholz betonte: »Es geht auch wirklich um die Behandlung von Patienten«, und erinnerte daran, dass Deutschland in früheren Jahrzehnten führend bei der klinischen Studienlage war – mit unmittelbaren Vorteilen für heimische Patientinnen und Patienten.
Lars Nickel vom Bundesgesundheitsministerium betonte in seinem Beitrag, dass das Gesetz nicht nur schnell verabschiedet, sondern auch praxisorientiert ausgestaltet worden sei. In humorvoller Form schilderte er, wie sein Team bei der Einbindung verbindlicher Vertragsklauseln sogar beim Justizministerium auf Verwunderung gestoßen sei – was aber nicht von der Ernsthaftigkeit der Absicht ablenken solle. Nickel appellierte an die Länder, ihre föderalen Sonderwege im Interesse eines funktionierenden Gesamtsystems aufzugeben. Auch wenn das Gesetz ältere Verträge unberührt lasse, gebe es bereits Flexibilisierungsoptionen, wenn beide Vertragspartner einverstanden seien.
Deutlich wurde jedoch auch, dass das Medizinforschungsgesetz kein Allheilmittel ist. Patrick van de Loo vom Pharmaunternehmen Pfizer machte auf Schwachstellen aufmerksam, die nicht allein durch Gesetzgebung zu beheben seien. So brauche es etwa ein zentrales Studienportal in deutscher und englischer Sprache, um internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Derzeit befinde sich Deutschland im Bereich der onkologischen Studien nicht einmal unter den ersten zehn Ländern weltweit – ein Befund, den van de Loo als untragbar bezeichnete. Der Fokus müsse auf Standardisierung, Entbürokratisierung und konsequenter Digitalisierung liegen.
Otto Quintus Russe von der Fraunhofer-Gesellschaft ging noch einen Schritt weiter und forderte ein »Ökosystem der Translation«. Damit sei gemeint, dass Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung schneller in die klinische Anwendung gelangen müssten – eine Forderung, die eng mit der Notwendigkeit intensiverer Kooperationen zwischen Universitäten, Industrie und Praxis verknüpft ist. Russe betonte, dass Deutschland in der angewandten Forschung stark sei, aber an systemischer Durchlässigkeit in Richtung Anwendung kranke.
Insgesamt herrschte unter den Teilnehmenden des Panels eine ungewöhnlich positive Grundstimmung – ein seltenes Phänomen in einem von Strukturproblemen geprägten Gesundheitssystem. Dass das Medizinforschungsgesetz tatsächlich als »geliefert« empfunden wird, wie Nickel es ausdrückte, ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels: vom Verwalten zum Gestalten. Gleichzeitig wird deutlich, dass die politische Rahmensetzung nur der erste Schritt sein kann. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die neuen Regeln nicht nur zu nutzen, sondern durch neue Kooperationsformen, flexible IT-Infrastrukturen und international anschlussfähige Prozesse zu verstetigen.
Einigkeit herrschte in einem Punkt: Die Zeit drängt. Wenn Deutschland die Rolle als Studienstandort und als Impulsgeber für medizinische Innovationen wieder zurückerobern will, dann muss die gegenwärtige Dynamik genutzt, verstetigt und durch konkrete Infrastrukturprojekte ergänzt werden. Dazu zählen digitale Studienplattformen, verstärkte Übersetzungsförderung, einheitliche Bewertungsverfahren und eine kohärente Finanzierung. Nur dann wird aus einem gelungenen Gesetz auch eine nachhaltige Transformation des Forschungsstandorts.
HIV-Dynamik verschiebt Risikoprofile, Ukraine-Flucht beeinflusst Statistik, Diagnosezahlen bleiben auf hohem Niveau
HIV-Neudiagnosen stabilisieren sich trotz regionaler Schwankungen, Risikogruppenanalysen offenbaren neue Herausforderungen, geflüchtete Patient:innen verändern die Meldebasis
Die Zahl der HIV-Neudiagnosen in Deutschland ist mit 3259 gemeldeten Fällen im Jahr 2024 nahezu stabil geblieben. Im Vergleich zum Vorjahr, das mit 3332 neuen Diagnosen endete, bedeutet dies eine leichte Abnahme – statistisch gesehen eine Konstanz, inhaltlich jedoch ein Warnsignal. Denn hinter den gleichbleibenden Zahlen verbergen sich deutliche Verschiebungen in der epidemiologischen Struktur, die vor allem vulnerable Gruppen, Testverhalten, Migration und Versorgungslücken betreffen. Das Robert Koch-Institut (RKI) verweist in seinem aktuellen Jahresbericht nicht nur auf das Gesamtausmaß der Neuinfektionen, sondern auch auf neue Dynamiken innerhalb der Übertragungswege. Dabei zeigt sich: Die Risikoverteilung verlagert sich, alte Trends kehren sich um, und neue Erklärungsfaktoren treten ins Zentrum.
Wie schon in den Vorjahren betrifft ein erheblicher Teil der Neuinfektionen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Sie machen 35 Prozent der gemeldeten Fälle aus und dominieren damit weiterhin das Bild der HIV-Epidemiologie in Deutschland. Auffällig ist dabei, dass die Infektionszahlen in dieser Gruppe erstmals seit mehreren Jahren wieder leicht angestiegen sind. Während frühere Entwicklungen einen kontinuierlichen Rückgang gezeigt hatten – auch bedingt durch pandemiebedingte Verhaltensänderungen, intensivere Prävention und die breite Verfügbarkeit von PrEP –, deutet der erneute Anstieg auf eine komplexere Gemengelage hin. Das RKI nennt als mögliche Ursachen sowohl eine tatsächliche Zunahme von Risikokontakten als auch eine Intensivierung von Testangeboten, die bislang unerkannt gebliebene Infektionen nun sichtbar machen.
Ein zweiter großer Anteil betrifft heterosexuelle Übertragungswege – rund 29 Prozent aller Neudiagnosen im Jahr 2024. Hier weist das RKI besonders auf einen systemischen Effekt hin: Zahlreiche dieser Fälle gehen auf Menschen zurück, die infolge des Ukrainekrieges nach Deutschland geflüchtet sind. Diese Patient:innen wurden zwar im deutschen Meldesystem erfasst, haben die Diagnose jedoch oft bereits vor ihrer Ankunft erhalten. Die Datenlage deutet darauf hin, dass sowohl Infektion als auch Behandlungsbeginn in den meisten Fällen im Herkunftsland erfolgt sind. Damit handelt es sich formal nicht um echte Neudiagnosen, sondern um bereits bekannte Infektionen, die nun ins deutsche Meldesystem eingespeist wurden. Diese Differenzierung ist entscheidend, um die epidemiologische Lage korrekt zu bewerten und Versorgungslücken nicht auf einer verzerrten Datenbasis zu diskutieren.
Deutlich untergeordnete Rollen spielen weiterhin Infektionen durch injizierenden Drogenkonsum (8 Prozent) sowie vertikale Übertragungen von Mutter auf Kind (1 Prozent). Auch wenn diese Zahlen niedrig erscheinen, sind sie von struktureller Relevanz: Sie belegen die Wirkung niedrigschwelliger Substitutionsprogramme, Spritzentauschmaßnahmen und der antiretroviralen Therapie in der Schwangerschaft. Gleichzeitig weisen Einzelfälle darauf hin, dass Präventionslücken auch in diesen Bereichen weiterhin zu schwerwiegenden Folgen führen können – vor allem, wenn soziale Benachteiligung, Sprachbarrieren oder unsichere Aufenthaltsverhältnisse den Zugang zu medizinischer Versorgung erschweren.
Ein zentrales Argument des RKI betrifft die Interpretation der Zahlen selbst. Die gemeldeten Neudiagnosen entsprechen nicht zwingend der tatsächlichen Zahl der Neuinfektionen im betreffenden Kalenderjahr. Zwischen Ansteckung und Diagnosestellung können Monate oder Jahre vergehen, je nach Gesundheitsverhalten, Testzugang und gesellschaftlicher Situation. Insofern ist das Meldeaufkommen auch ein Spiegel der medizinischen Infrastruktur und ihrer Fähigkeit, Infektionen frühzeitig zu erkennen. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in Krisenzeiten, etwa durch pandemiebedingte Einschränkungen oder die Auswirkungen des Ukrainekriegs.
Aus Sicht der Versorgung ist dieser Befund bedeutsam. Denn auch wenn die Zahl der Neudiagnosen relativ konstant bleibt, verschieben sich die Anforderungen an Präventionsarbeit und Versorgungsstrukturen erheblich. Die medizinische Behandlung von HIV ist heute zwar hoch wirksam und ermöglicht ein fast normales Leben – vorausgesetzt, die Diagnose erfolgt früh, die Therapie beginnt zeitgerecht und die soziale Einbindung ist stabil. Doch genau daran fehlt es vielfach. Die Kombination aus Migrationsdruck, bürokratischen Hürden, Diskriminierungserfahrungen und fehlender digitaler Anbindung führt dazu, dass viele Betroffene nur verspätet oder gar nicht im System auftauchen.
Gesundheitspolitisch ergibt sich daraus ein doppelter Handlungsbedarf. Erstens muss die Test- und Aufklärungsstrategie gezielter auf Gruppen zugeschnitten werden, die bislang zu selten erreicht wurden. Dazu zählen neben MSM und Menschen mit Migrationsgeschichte auch Jugendliche, Drogenkonsument:innen und sexuell aktive Erwachsene ohne feste Partner. Zweitens bedarf es einer Reform der Melde- und Datenpraxis, um zwischen echten Neudiagnosen und importierten Vordiagnosen klarer unterscheiden zu können. Nur so lassen sich Versorgungsgerechtigkeit, Präventionsplanung und internationale Vergleichbarkeit sinnvoll aufrechterhalten.
Vor diesem Hintergrund ist die Stabilität der Diagnosezahlen kein Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: Sie unterstreicht, dass HIV in Deutschland zwar beherrschbar, aber keineswegs gelöst ist. Der leicht gestiegene Anteil von MSM-Infektionen, die durch Flucht veränderten Strukturen bei heterosexueller Übertragung und die Notwendigkeit präziser Testpolitik verdeutlichen: Die HIV-Prävention muss in die nächste Phase überführt werden – differenziert, datensensibel und strukturell wachsam.
Tumortherapie schützt vor Alzheimer, Strahlenbehandlung senkt Risiko, Chemobrain-Effekt unter neuer Bewertung
Brustkrebspatientinnen profitieren möglicherweise langfristig kognitiv von Strahlen- und Chemotherapie, neue Studien relativieren bisherige Annahmen über Chemotherapie-bedingte Demenzrisiken, Alzheimer-Prävention rückt als Nebeneffekt in den Fokus
Jahrelang galt es als nahezu gesichert, dass onkologische Therapien wie die Chemotherapie nicht nur den Körper belasten, sondern auch das zentrale Nervensystem – mit Folgen für die Gedächtnisleistung, Konzentration und Sprachverarbeitung. Unter dem Begriff „Chemobrain“ wurden diese Symptome zwar nie pathologisch scharf definiert, doch sie gehören für viele Brustkrebspatientinnen zum subjektiv belastenden Therapieverlauf. Dass nun ausgerechnet eine retrospektive Kohortenstudie des Seoul National University College of Medicine einen potenziell neuroprotektiven Effekt einzelner Tumortherapien aufzeigt, verändert das Paradigma: Die Behandlung des Krebses könnte, so der Befund, in bestimmten Fällen sogar das Risiko für eine Alzheimer-Demenz senken – und das trotz der berichteten kognitiven Einschränkungen während oder nach der Behandlung.
Das Forschungsteam um Professor Dr. Su-Min Jeong nutzte dafür die umfangreichen Gesundheitsdaten des koreanischen National Health Insurance Service (K-NHIS) und verglich die Krankengeschichte von 70.701 operierten Brustkrebspatientinnen mit 180.360 altersgematchten krebsfreien Kontrollpersonen. Die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 7,3 Jahre – ein Zeitraum, der es ermöglicht, erste Aussagen über mittel- bis langfristige kognitive Folgen zu treffen. Die Resultate zeigten eine Alzheimer-Inzidenz von 2,45 pro 1.000 Personenjahre in der Brustkrebsgruppe gegenüber 2,63 in der Kontrollgruppe. Daraus ergab sich eine Subdistribution Hazard Ratio (SHR) von 0,92. Dieser Unterschied war nicht nur statistisch signifikant, sondern auch klinisch relevant – insbesondere bei Frauen ab 65 Jahren, die ohnehin ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen tragen. Im Langzeitverlauf ab dem fünften Jahr glich sich das Risiko allerdings zwischen den Gruppen an, was auf einen zeitlich limitierten protektiven Effekt hindeutet.
Die differenzierte Analyse der Therapieformen offenbart ein klares Muster: Nur die Strahlentherapie zeigte einen signifikanten Schutz vor Alzheimer (HR: 0,77). Bei der Verabreichung von Anthrazyklinen wurde ein tendenziell schützender Effekt festgestellt (HR: 0,86), der jedoch die Signifikanzgrenze nicht erreichte. Andere Therapien wie Taxane, Trastuzumab, Tamoxifen und Aromatasehemmer wiesen keine Assoziation mit einem reduzierten Alzheimer-Risiko auf. Diese Ergebnisse veranlassten die Forschenden zu Hypothesen über die Mechanismen hinter den beobachteten Effekten. So könnten Anthrazykline eine Hemmung der Tau-Protein-Aggregation und der Amyloidablagerung im Gehirn bewirken – beides Schlüsselelemente der Alzheimer-Pathogenese. Zudem stimulieren sie in präklinischen Modellen die Autophagie, einen intrazellulären Reinigungsprozess, der bei Alzheimer gestört ist. Das eröffnet die Perspektive, dass bestimmte Chemotherapeutika – entgegen ihrer bekannten Nebenwirkungen – in ausgewählten Kontexten eine neuronale Schutzfunktion entfalten können.
Noch überraschender ist die positive Wirkung der Strahlentherapie. Strahlung gilt gemeinhin als potenziell neurotoxisch, doch die Studienlage differenziert zunehmend zwischen hoher, fokussierter und niedriger, streuender Dosierung. Letztere könnte – so legen Tierstudien und erste Pilotversuche bei Alzheimer-Patienten nahe – antiinflammatorisch wirken, die Mikrogliazellen modulieren und so neuroprotektive Kaskaden aktivieren. Die Strahlentherapie könnte somit nicht nur das Tumorgewebe bekämpfen, sondern gleichzeitig eine kurzfristige Stabilisierung kognitiver Prozesse auslösen. Dies widerspricht zwar bisherigen Befürchtungen, ist aber biophysiologisch plausibel, wenn man sie im Kontext der Neuroimmunologie betrachtet.
Im Bereich der endokrinen Therapien blieb der Befund uneinheitlich: Tamoxifen zeigt agonistische Wirkungen an Estrogenrezeptoren im zentralen Nervensystem, was eine neuroprotektive Wirkung ermöglichen könnte – allerdings war dieser Effekt in der aktuellen Studie nicht statistisch darstellbar. Aromatasehemmer wiederum beeinflussen die Konzentration androgenetischer Vorläufer, die ebenfalls neurokognitiv aktiv sein könnten, jedoch ebenfalls ohne klaren Zusammenhang in dieser Auswertung. Somit bleibt offen, ob hormonmodulierende Therapien neutral oder individuell unterschiedlich auf das kognitive Langzeitprofil wirken.
Besonders brisant ist die Implikation für die onkologische Versorgung: Der vielzitierte Chemobrain verliert durch diese Daten nicht an Bedeutung, wohl aber an Generalisierbarkeit. Er wird nicht zur Vorstufe einer Demenz, sondern zum eigenständigen, meist reversiblen Syndrom. Die Patientinnen sollten ernst genommen, aber nicht pathologisiert werden. Umgekehrt eröffnet die Datenlage die Möglichkeit, Tumortherapien nicht nur hinsichtlich Überlebenszeit und Rezidivfreiheit, sondern auch nach neurokognitiven Langzeitwirkungen zu differenzieren – ein Gedanke, der bisher kaum in Leitlinien verankert ist, aber mit der demografischen Alterung zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Auch wenn die Studie keinen kausalen Wirkmechanismus nachweisen kann und keine therapeutische Empfehlung ableitet, zeigt sie eindrücklich, wie komplex die systemischen Wirkungen einer Krebsbehandlung sind. Insbesondere bei älteren Patientinnen, die mit multiplen Risiken leben, kann der neurokognitive Aspekt künftig ein zusätzliches Argument in der individuellen Therapieplanung sein. Das Forschungsergebnis legt nahe, dass das Gehirn – bisher eher als Nebenopfer der Tumortherapie gesehen – in einigen Fällen sogar zu den unbeabsichtigten Gewinnern zählen könnte.
Gesundheitspolitik verfehlt Vorsorgeziele, WHO warnt vor Ignoranz, Risikofaktoren bleiben ungebremst
Nichtübertragbare Krankheiten verursachen Millionen vermeidbare Tote, wirtschaftliche Schäden durch fehlende Prävention steigen, politische Maßnahmen bleiben lückenhaft
Nichtübertragbare Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder kardiovaskuläre Leiden fordern in Europa jedes Jahr Millionen Leben – oft viel zu früh, oft viel zu still. Die WHO hat nun erneut in aller Schärfe auf ein politisch und gesellschaftlich vernachlässigtes Thema hingewiesen: Laut ihrem aktuellen Bericht sind jährlich rund 1,8 Millionen Todesfälle in der europäischen WHO-Region vermeidbar – entweder durch bessere Prävention, frühzeitige Diagnose oder leitliniengerechte Versorgung. Doch obwohl diese Zahl seit Jahren bekannt ist, bleibt der systemische Handlungswille erschreckend schwach. Der WHO-Regionaldirektor Hans Kluge bringt es auf den Punkt: „Wären diese Krankheiten ein Virus, stünde die Welt längst im Lockdown.“ Doch weil es keine Epidemiekurve gibt, keine virale Panik, sondern nur langsames Sterben und schleichende Verschlechterung, dominieren weiterhin Ignoranz und Investitionslücken.
Dabei liegen die Ursachen in der Lebensführung offen zutage: Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht, ungesunde Ernährung, Alkohol und Bluthochdruck zählen zu den häufigsten Risikofaktoren. Sie allein machen laut WHO-Analyse rund 60 Prozent der Todesfälle durch NCDs aus. Die Rede ist von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Krebsformen, COPD, metabolischem Syndrom und Typ-2-Diabetes – Erkrankungen, die nicht durch Ansteckung, sondern durch Strukturen, Verhalten und politische Rahmenbedingungen befördert werden. Die WHO spricht deshalb nicht mehr nur von einem gesundheitlichen Versagen, sondern von einer tiefgreifenden politischen Unterlassung. Die Folgen treffen nicht nur einzelne Menschen, sondern Volkswirtschaften als Ganzes: Rund 514 Milliarden Dollar jährlich gehen durch Produktivitätsverluste verloren – auch das vermeidbar.
Betroffen ist die gesamte WHO-Region Europa, die sich über 53 Länder erstreckt – von Island bis Kirgistan. Doch die Unterschiede innerhalb der Region sind gravierend: In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Mortalität an NCDs deutlich niedriger als im europäischen Durchschnitt. In osteuropäischen Staaten hingegen sind Frühsterblichkeit und Krankheitshäufigkeit nach wie vor alarmierend hoch. Zwar haben sich die Unterschiede seit 2010 tendenziell verringert, doch der Rückstand vieler Staaten bleibt strukturell manifestiert. Die WHO mahnt daher eine systematische Angleichung an, die über Einzelerfolge hinausgeht und gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen als Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Resilienz begreift.
Frankreich hat darauf nun mit einem Paukenschlag reagiert: Ab dem 1. Juli tritt ein weitreichendes Rauchverbot in Kraft – an öffentlichen Stränden, in Parks, an Bushaltestellen, Sportplätzen und in der Umgebung von Schulen. Gesundheitsministerin Catherine Vautrin begründet das mit dem Schutz der Schwächsten: „Wo es Kinder gibt, muss der Tabak verschwinden.“ Die Maßnahme gilt zunächst nicht für E-Zigaretten, doch auch hier sind strengere Regeln angekündigt – darunter eine Reduzierung der Nikotindichte und Beschränkungen bei Aromen. Frankreichs Vorstoß ist nicht isoliert zu sehen: Auch auf EU-Ebene drängen Kommission und Ausschüsse wie SANT auf neue Präventionsansätze, die nicht nur auf Aufklärung, sondern auf Regulation, Besteuerung und Werbeverbote setzen.
Der WHO-Bericht liefert dazu nicht nur Daten, sondern auch einen Handlungsrahmen. Zentral ist die Förderung von Gesundheitskompetenz, die Entstigmatisierung chronischer Erkrankungen und die Investition in frühzeitige Intervention. Apotheken können und sollen dabei eine Schlüsselrolle einnehmen – als niedrigschwellige, präventive Anlaufstellen, die Gesundheitsbildung, Risikoberatung und Versorgung zusammenführen. Doch die Realität sieht vielerorts anders aus: Strukturelle Unterfinanzierung, bürokratische Überlastung und fehlende politische Rückendeckung erschweren es Apotheken, ihr präventives Potenzial auszuschöpfen. Die politische Verantwortung liegt somit nicht nur im Systemdesign, sondern konkret bei der Frage, welche Rolle wohnortnahe Versorgungseinrichtungen in der Zukunft spielen dürfen – oder spielen müssen.
Mit Blick auf die Agenda 2030 zeigt sich die Dringlichkeit: Die Ziele zur Reduktion vorzeitiger Todesfälle durch NCDs sind laut WHO längst in Gefahr. Die globale Gesundheitsarchitektur hat zwar gelernt, akute Gesundheitskrisen wie Pandemien schnell zu beantworten – bei chronischen Entwicklungen hingegen verharrt sie im Modus struktureller Selbstberuhigung. Der Bericht spricht von einer „stillen Epidemie“, die keine Schlagzeilen macht, aber täglich tötet. Ein Wandel ist möglich – doch er braucht einen Paradigmenwechsel weg von krankheitsorientierter Versorgung hin zu systemischer Vorsorgepolitik.
Nichtübertragbare Krankheiten sind mehr als ein medizinisches Thema. Sie sind ein Indikator für Lebensverhältnisse, für soziale Gerechtigkeit und politischen Weitblick. Dass Millionen Todesfälle jährlich durch vermeidbare Ursachen ausgelöst werden, ist nicht nur tragisch – es ist vermeidbar. Die WHO liefert mit ihrem Bericht einen Weckruf, der weit über Europa hinausreicht. Die Frage ist: Wird er gehört?
Von Engin Günder, Fachjournalist
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